Selbst grosse Gelehrte sind verwirrt, wenn sie verstehen wollen, was gut und was schlecht ist, was
man annehmen soll und was man zurückweisen muss (kim karma kim akarmeti kavayo`py atra
mohitah).
Selbst grosse Gelehrte bringen es nicht fertig, ihre wirkliche Notlage zu verstehen. Diese materielle
Welt ist geradezu ein Dschungel aus Verworrenheit, in dem die Seele unzählig viele verschiedene
Arten von Körpern auf verschiedenen Bewusstseinsstufen angenommen hat. In den Gesetzen von
Manu steht geschrieben:
Es gibt 900.000 Arten von Wasserlebewesen, 2.000.000 Arten von Bäumen und Pflanzen, 1.100.000
Arten von Insekten und Reptilien, 1.000.000 Arten von Vögeln, 3.000.000 Arten vierfüssiger Tiere
und 400.000 menschliche Lebensformen. Manu stellt fest, dass sich die Bäume wegen ihres eigenen
karma in einer solch bedauernswerten Lage befinden. Ihre Gefühle von Schmerz und Freude sind den
unseren sehr ähnlich, denn ihre Seelen sind nicht von geringerer Art. Gleichwohl sind sie aufgrund
ihres eigenen karma in einer solch bedauernswerten Lage. Sie können niemand anderem ausser sich
selbst die Schuld dafür geben. So liegen die Dinge in dieser äusseren Welt.
Wir leben in einer Welt, die unter ernstzunehmenden Missverständnissen, Unstimmigkeiten,
Irreführung und Fehlverhalten leidet. Wie können wir in Erfahrung bringen, was gut oder schlecht
ist, wonach wir streben und was wir ablehnen sollen?
Wir sind in ein dichtes Netz unzähliger Möglichkeiten verstrickt, das uns ständig beeinflusst. Und
wenn schon diese Welt, die von Sinnestäuschung eingehüllt und von Missverständnissen beeinflusst
wird, von einer solchen Vielfalt erfüllt ist, wie können wir dann hoffen, jemals die unermessliche
geistige Welt von Vaikuntha kennenzulernen? Mit welcher Haltung sollen wir uns diesem Reich
nähern, das transzendental ist und das ausserhalb der Reichweite unserer Sinne und unseres
Verstandes liegt (adhoksaja)?
Wir müssen jeden Weg und jede Verbindung annehmen, die uns helfen, in dieses Reich Eingang zu
finden. Wir sollten uns sogar noch um die allerschwächste Verbindung mit diesem Ziel bemühen, das
für unsere angeborene Sehnsucht die Vollkommenheit bedeutet. Wir sind hilflos; wir sind
hoffnungslos gefangen inmitten von Enttäuschung. Wir schweben in äusserster Gefahr. Wir verlassen
uns auf unseren freien Willen, auf unsere Fähigkeit, das Beste für uns auszuwählen, aber beide sind
zu winzig und hilflos, um uns zu führen.Wie gross ist doch die Gefahr, in der wir schweben! Alle um
uns herum sind Zeugen dieser Gefahr. Wie wichtig ist ein echter guru, der uns zu unserem
wirklichen Wohl führen kann.
Wir stehen mitten zwischen verschiedenen Kräften, die an uns zerren, uns in verschiedene
Richtungen ziehen, und deswegen ist die richtige Unterweisung für uns alle das Wertvollste und
Wichtigste. Wenn wir von allem und jedem Leitung annehmen, werden wir irregeführt werden.
Deshalb müssen wir achtgeben, dass wir die richtige Führung bekommen. Dazu gibt Krishna in der
Bhagavad-gita (4.34) folgende Anweisung:
"Wenn du das transzendentale Wissen verstehen willst, musst du dich an einen selbstverwirklichten Menschen wenden, ihn als deinen geistigen Meister akzeptieren und Einweihung von ihm annehmen. Stelle ihm in ergebener Haltung Fragen und diene ihm. Selbstverwirklichte Seelen können dir transzendentales Wissen mitteilen, denn sie haben die Wahrheit gesehen."
Damit hat Krishna den Massstab gesetzt, mit dessen Hilfe wir das wahre Wesen der Dinge verstehen
können, vorausgesetzt wir empfangen dieses Wissen aus einer rechtmässigen Quelle. Die Norm, an
der Wahrheit oder Unwahrheit zu messen ist, darf nicht von einer verunreinigten, anfechtbaren Ebene
kommen, sondern nur von der absoluten Ebene. Um das zu begreifen, müssen wir diese drei
Voraussetzungen erfüllen: pranipat, pariprasna und seva. Pranipat bedeutet, dass wir uns diesem
Wissen hingeben müssen. Denn es ist keine gewöhnliche Art von Wissen, das wir als Kontrollierende
unseren Interessen untertan machen könnten. Es liegt völlig ausserhalb unserer Einflusssphäre. Wir
mögen in dieser irdischen Welt den Ton angeben, aber wir müssen gefügig werden, damit sich die
Allwissenheit jener Ebene unser beliebig bedienen kann.
Pranipat bedeutet, dass jemand sich an einen geistigen Meister wendet und sagt: "Ich bin mit dieser
äusseren Welt fertig. Nichts gefällt mir mehr hier auf dieser Ebene, auf der ich bis jetzt gelebt habe.
Jetzt bringe ich mich uneingeschränkt als Opfer auf Deinem Altar dar. Ich wünsche mir nur noch
Deine Barmherzigkeit." Mit dieser Geisteshaltung sollten wir uns jenem höheren Wissen nähern.
Pariprasna bedeutet aufrichtiges, ernsthaftes Fragen. Dabei dürfen wir nicht die Neigung haben zu
diskutieren oder gar den Wunsch nach Auseinandersetzung, sondern alle unsere Anstrengungen
sollten eindeutig darauf gerichtet sein, die Wahrheit zu verstehen, ohne den geringsten Anflug von
Zweifel oder Argwohn. Mit vollster Aufmerksamkeit sollten wir diese Wahrheit zu verstehen suchen,
denn sie kommt von einer höheren Wirklichkeitsebene, die wir bisher nicht gekannt haben.
Und schliesslich gibt es noch sevaya oder Dienst. Das ist das Allerwichtigste. Wir versuchen nicht,
dieses Wissen zu erlangen, um von jener Ebene Hilfe zu holen und auch nicht, um diese Erfahrung
für unser Leben hier nutzbar zu machen. Stattdessen müssen wir unser Versprechen geben, dieser
Ebene zu dienen. Allein mit einer solchen Haltung können wir uns diesem Reich des Wissens nähern.
Wir sollen diesem höheren Wissen dienen und nicht versuchen, es in unseren Dienst zu stellen. Sonst
werden wir nicht die Erlaubnis erhalten, in jenes Reich einzutreten.
Das Absolute Wissen wird nicht kommen, um dieser niedrigeren Ebene zu dienen. Wir müssen uns
dem Herrn so hingeben, dass Er Sich unser bedienen kann. Wir sollten nicht versuchen, Ihn auf
unsere egoistische Weise zu benutzen, nur um unser niederes Verlangen zu befriedigen. Wir sollen
uns Ihm in einer Haltung des Dienens hingeben und nicht etwa Er Sich uns, um unsere niederen
tierischen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit einer solchen Haltung also sollen wir nach dieser Ebene
des wahren Wissens streben und das massgebliche Verständnis empfangen. Erst dann können wir
Unterschiede machen und uns ein richtiges Urteil über unsere Umwelt bilden.
Das ist vedische Kultur. Absolutes Wissen ist immer nur durch diesen Vorgang übertragen worden
und niemals durch verstandesmässige Annäherung. Srila Prabhupada Bhaktisiddhanta erzählte dazu
gewöhnlich das Gleichnis von der Biene: Eine Biene hat sich auf ein verschlossenes Glas gesetzt, in
dem sich Honig befindet. Sie versucht, den Honig zu kosten, indem sie an dem Glas leckt. Aber
sowenig die Biene den Honig kosten kann, wenn sie von aussen am Glas leckt, sowenig kann sich die
Verstandeskraft der geistigen Welt nähern. Manchmal mögen wir vielleicht denken, dass wir sie
erreicht haben, aber das ist nicht möglich: da gibt es eine Barriere, genau wie das Glas. Durch
intellektuelle Errungenschaften erlangt man kein wirklich höheres Wissen. Nur durch Glauben,
Aufrichtigkeit und Hingabe können wir uns diesem höheren Reich nähern und Zugehörigkeit
erlangen. Wir dürfen diese höhere Ebene nur betreten, wenn seine Bewohner uns ein Visum
ausstellen und uns hereinlassen. Dann können wir jenes Reich göttlichen Lebens betreten. Ein
Kandidat muss also diese drei Vorbedingungen erfüllen, bevor er sich der Wahrheit nähern kann, die
sich auf der höheren Ebene der absoluten Wirklichkeit befindet. Er kann sich der Absoluten Wahrheit
nur mit einer Haltung von Demut, von Aufrichtigkeit und Hingabe nähern. Ganz ähnlich wird das
im Srimad Bhagavatam und in den Veden ausgedrückt. In den Upanishaden heisst es (Mundaka
Upanishad 1.2.12): "Wende dich an einen geistigen Meister. Geh nicht zögernd oder aufs Geratewohl
zu ihm, sondern mit einem klaren und ernsthaften Herzen." (tad vijnanartham sa gurum
evabhigacchet samit panih srotriam brahma nistam)
Niemand sollte sich mit "einer Rückfahrkarte in der Tasche" an einen geistigen Meister wenden. Srila
Bhaktisiddhanta Prabhupada pflegte immer zu sagen: "Du bist mit einer Rückfahrkarte
hierhergekommen." Wir dürfen uns dem geistigen Meister nicht mit einer solchen Haltung nähern.
Wir sollten vielmehr denken, dass wir alles gesehen haben, dass wir in dieser vergänglichen Welt alles
erfahren haben und dass es hier für uns nichts Erstrebenswertes mehr gibt. Mit diesem klaren
Bewusstsein sollten wir uns dem guru nähern. Das ist für uns die einzige Möglichkeit zu leben. Denn
diese Welt ist vergänglich. Es gibt für uns keinen Weg, keine Möglichkeit, hier zu leben und
dennoch ist der Wille zu leben eine Neigung, die jedem Lebewesen angeboren ist.
"Ich möchte einfach leben und mich selbst retten. Deshalb laufe ich so schnell ich kann dorthin, wo
ich wirklich Zuflucht finde." Eine solche Ernsthaftigkeit muss die Grundlage der Aufopferung des
Schülers für seinen geistigen Meister sein. Er wird nicht zu seinem geistigen Meister gehen, um ihm
Unannehmlichkeiten zu bereiten, vielmehr wird er alles, was er zum Leben braucht, mitbringen,
wenn er zu ihm kommt. Er wird zu ihm gehen und sein eigenes Bett und seine eigene Ausstattung
mitbringen. Es geht ihm nicht darum, dem geistigen Meister eine Freundlichkeit zu erweisen und ihm
zu einem berühmten Namen zu verhelfen, indem er sein Schüler wird.
Und welche Position nimmt dann der geistige Meister ein? Er muss sich in der offenbarten Wahrheit
und nicht etwa in gewöhnlichem Wissen gut auskennen. Die Offenbarung vom Königreich Gottes ist
in vielen Schattierungen in der Welt verbreitet, aber der guru muss davon eine umfangreiche,
anschauliche Kenntnis besitzen. Er muss ein umfassendes Wissen über die offenbarte Wahrheit haben
und beständig ein wirklich spirituelles Leben führen. Seine Tätigkeiten sind alle mit dem Geistigen
und nicht mit der irdischen Welt verbunden. Er beschäftigt sich mit dem brahman, der Ebene also,
die alles in sich birgt, die die fundamentale Grundlage für alles andere darstellt (brahma-nistam). Er
lebt sein Leben ohne jede Beziehung zum Vergänglichen, zum Irdischen. Er lebt ständig auf der
transzendentalen Ebene und bleibt sein ganzes Leben lang mit dieser Ebene in Verbindung. Was
immer er tut, das wird er einzig in diesem Bewusstsein tun. So steht es in den Upanishaden. Und im
Srimad Bhagavatam heisst es (11.3.21):
Maya bedeutet falsche Vorstellung. Wir leben inmitten dieser falschen Vorstellung. Unser
Verständnis von der Welt beruht auf einer Menge völlig falsch verstandener Ideen und Gedanken. Im
absoluten Sinn haben wir von nichts eine richtige Vorstellung. Unsere Gedanken sind alle relativ.
Wir haben der Welt unseren engstirnigen Egoismus aufgezwungen, und jetzt werden wir von dieser
falschen Vorstellung geleitet. Wenn jemand zu der Überzeugung gelangt, dass alles um ihn herum
sterblich ist und vergehen wird, dann wird er aus dieser Erkenntnis heraus, die Notwendigkeit
verspüren, sich an den guru, den göttlichen Lehrer und Meister zu wenden, um ihn zu fragen: "Was
ist für mich das höchste Gut?" Mit dieser Frage wird er sich an den geistigen Meister wenden. Und
an wen wird er sich wenden? An jemanden, der nicht nur die Gebote der offenbarten Schriften gut
kennt, sondern an jemanden, der auch wirklich mit dieser offenbarten Wahrheit in Berührung
gekommen ist.
Jemand der wirklich mit den Schriften vertraut ist und der gleichzeitig praktische Erfahrung besitzt,
jemand, der im reinen Bewusstsein verankert ist, der ist ein echter guru. Man sollte sich an einen
solchen Meister wenden, um selbst Unterstützung zu erlangen, um zu verstehen, was der grösste
Gewinn in dieser Welt ist und wie man diesen erreichen kann. Das ist notwendig und es ist wirklich.
Es beruht nicht auf Einbildung. Und gleichzeitig ist es schwierig. Man muss mit Hilfe der richtigen
Methode nach der Absoluten Wahrheit suchen. Denn sonst werden wir den falschen Weg gehen und
sagen: "Oh, da gibt es ja gar nichts, das ist alles nicht wirklich." Also nur wenn wir diese richtige
Methode anwenden, um die Wahrheit zu verstehen, werden wir die wirkliche Natur des Göttlichen
erfahren.