Schüler: Kannst du bitte die wirkliche Bedeutung von diksa, von Einweihung, erklären?
Srila Sridhara Maharaja: Srila Jiva Goswami hat das in seinem Bhakti-Sandarbha (868) so erläutert:
Sachkundige Gelehrte haben die Bedeutung der diksa, der spirituellen Einweihung, auf folgende
Weise erklärt: diksa ist der Vorgang, durch den das transzendentale Wissen vom Lehrer auf den
Schüler übertragen wird. Als Folge davon werden alle vorhergehenden schlechten Neigungen des
Schülers vernichtet. Durch diksa werden alle vorherigen Verpflichtungen beseitigt, und man tritt in
das Licht eines neuen Lebens, in Verbindung mit dem Transzendentalen Herrn. Diksa oder
Einweihung ist ein Vorgang, durch den wir eine erhabene Verbindung mit dem Absoluten Zentrum
erlangen und durch den gleichzeitig alle unsere vorhergehenden Verpflichtungen beendet werden. Es
ist ein inneres Erwachen des Lebens, das göttliches Wissen mit sich bringt. Dieser Reichtum ist
bereits in uns vorhanden, aber er ist unterdrückt. Diksa bedeutet das Entdecken des inneren
Reichtums und die Befreiung von allen äusseren Pflichten.
Mit dem inneren Erwachen verschwinden die äusseren Bindungen. Es ist genauso wie wenn du nach
Hause kommst und alle anderen Vorkehrungen, die du für dein Wohlbefinden getroffen hast,
gegenstandslos werden. Denn zu Hause findest du alle Annehmlichkeiten. Wenn wir in einem
fremden Land sind, dann mögen wir die Behaglichkeit suchen, die man in Hotels findet, aber wenn
wir nach Hause kommen, dann werden wir diese Annehmlichkeiten aufgeben; wir brauchen sie nicht
mehr. Manchmal wird ein Minderjähriger von zu Hause entführt. Später mag er vielleicht seinen
Geburtsort besuchen und in einem Hotel wohnen. Aber wenn er plötzlich sein Elternhaus
wiederfindet und nach Hause kommt, werden seine Eltern ihn erkennen und sagen: "Mein Sohn! Du
bist uns weggenommen worden, als du noch klein warst. Aber wir erkennen dein Gesicht wieder. Ich
bin deine Muter, das ist dein Vater, das ist deine Schwester." Dann wird das Hotel nicht mehr länger
gebraucht. In ähnlicher Weise werden wir in dem Moment unsere Geborgenheit bei Krishna finden,
in dem unsere Seele innerlich aufwacht und wir zurück nach Hause, zurück zu Gott gehen. Das, was
uns mit unserem wirklichen Zuhause verbindet und die Verbindung nach aussen überflüssig macht,
das ist diksa.
Schüler: Was ist der Unterschied zwischen siksa , der spirituellen Unterweisung, und diksa?
Srila Sridhara Maharaja: diksa betrifft vor allem die Einweihung in das mantra, die spirituelle
Formel. Andere Anweisungen sind notwendig, um das zu festigen, ihm zur Wirksamkeit zu
verhelfen. Dabei sind auch bestimmte Tätigkeiten hilfreich. All das sind wesentliche Bestandteile der
Einweihung. Mit der Einweihung wird also eine allgemeine Richtlinie gegeben, wie aber soll man sie
mit konkretem Inhalt füllen? Dazu sind Einzelheiten notwendig. Im Srimad-Bhagavatam (7.5.23-24)
heisst es:
"Über Krishna zu hören, Seinen Ruhm zu preisen, sich an Krishna zu erinnern, den Lotosfüssen
Krishnas zu dienen, Krishnas transzendentale Gestalt zu verehren, Krishna Gebete darzubringen,
Krishnas Diener zu werden, Krishna als seinen besten Freund anzusehen und alles Krishna
hinzugeben - diese neun Vorgänge werden als reiner hingebungsvoller Dienst anerkannt." Alle diese
Dinge werden empfohlen; tausend Kleinigkeiten können notwendig sein.
Wenn ein General in ein anderes Land einmarschieren will, muss er seine Strategie zunächst in
groben Zügen entwerfen. Wenn er dann daran geht, seinen Plan praktisch auszuführen, werden eine
ganze Menge Hindernisse sichtbar werden und er muss sie alle aus dem Weg räumen und
weitermarschieren. Wenn jemand reisen will, dann macht er sich davon nur eine ungefähre
Vorstellung: "Von diesem fremden Land werde ich auf diesem Weg nach Hause gelangen." Um aber
den Plan in die Tat umzusetzten, muss er viele Einzelheiten berücksichtigen. Zuerst wird er alles in
groben Zügen entwerfen und dann muss er tatsächlich eine ganze Menge Dinge tun. Zuerst muss er
ein Taxi mieten, dann muss er zum Flughafen um ein Flugticket zu kaufen - es sind also eine ganze
Menge Einzelheiten erforderlich. Wir müssen - von einem unvollständigem Wissen ausgehend -
vollkommenes Wissen entwickeln. Dieses ausführliche Wissen wird siksa genannt.
Schüler: Wie steht es um einen Gottgeweihten, der im Auftrag von Sri Chaitanya Mahaprabhu und
seinem geistigen Meister Schüler annimmt, obwohl er selbst noch nicht völlig frei ist vom Einfluss
der täuschenden Energie (maya)?
Srila Sridhara Maharaja: Für jemanden, der ein Geschäft mit wenig Kapital beginnt, ist es besser,
wenn er mit einem wohlhabenden Kapitalisten in Verbindung steht. Dann kann er mit seiner Tätigkeit
Erfolg haben. In ähnlicher Weise muss jemand auf irgendeine Art mit der Hilfe von oben in
Verbindung stehen, solange er noch nicht vollständig im Krishna-Bewusstsein verankert ist. Dann
wird er sicher sein. Wenn wir maya, der Sinnestäuschung, Auge in Auge im Kampf gegenüber
stehen, dann sollte die Hilfe von dieser höheren Instanz unsere einzige Zuflucht sein. Es ist sehr
schwierig, maya erfolgreich zu bekämpfen. Krishna sagt in der Bhagavad-Gita (7.14):
"Es ist unmöglich, Meine täuschende Energie zu überwinden. Nur wer sich Mir hingibt, kann darüber hinausgelangen." Maya fürchtet sich nur vor Krishna, denn von Ihm erhält sie ihren Rückhalt. Falls du etwa versuchst, maya allein entgegenzutreten, so ist das einfach undurchführbar. Du musst mit etwas Höherem in Verbindung stehen. Und mit Hilfe dieser Verbindung kannst du die Sinnestäuschung überwinden. Maya wird sich nur dann zurückziehen, wenn sie sieht, dass du die Unterstützung einer höheren Macht geniesst. Allein kannst du nicht gegen maya kämpfen und siegreich bleiben. Es ist deshalb unmöglich, weil du, wo immer du auch hingehst, innerhalb der Einflusssphäre von maya bist. Das mag stärker oder schwächer der Fall sein, aber es ist immer maya. Nur wenn du wirklich mit der Ebene über maya in Berührung kommst, dann kannst du gegen maya kämpfen; nur dann wird sich maya zurückziehen. Wir müssen irgendeine Zuflucht jenseits von maya haben, von wo aus wir mit der Sinnestäuschung kämpfen können. Es wird uns geraten, Schutz zu suchen bei sadhus, den Heiligen, und der sastra, den Heiligen Schriften. Ihre Hilfe kommt von oben, und wir müssen diese Hilfe aus tiefstem Herzen annehmen.
Schüler: Es scheint, dass diejenigen, die Schüler annehmen, auf irgendeine Weise körperliche
Schwierigkeiten oder Leiden erdulden müssen, weil sie das karma ihrer Schüler auf sich nehmen.
Srila Sridhara Maharaja: Auf körperliche Schwierigkeiten sollte man keine Rücksicht nehmen. Und
auch körperlicher Leistung sollte man nicht allzuviel Wert beimessen. Man soll nicht etwa denken,
ein guru sei deswegen bedeutend, weil er viele Schüler hat.
Jemand mag zum Beispiel freiwillig die Verantwortung für das spirituelle Leben von vielen Schülern
auf sich nehmen, um dann festzustellen, dass ihr Fortschritt unbefriedigend ist. Das kann ihn natürlich
in gewisser Weise beunruhigen. Er mag denken: "Ich habe die Verantwortung für ihr Leben
übernommen, aber ich bin nicht fähig, ihnen den ersehnten Fortschritt im spirituellen Leben zu
geben." Das ist ein gutes Zeichen. Vaishnavas machen sich keine Sorgen um sich selbst, vielmehr
sind sie um andere besorgt (para-duhkha duhkhi). In seinem Gebet an Sanatana Goswami schreibt
Srila Ragunatha Dasa Goswami, dass Sanatana Goswami immer betrübt war, wenn er das Leid der
anderen sah. Ein Vaishnava sorgt sich nicht um sich selbst, aber er fühlt sich innerlich beunruhigt,
wenn er das Leid der anderen sieht. Für einen Vaishnava ist es schwierig, das Leid der anderen
einfach hinzunehmen. Das ist die Eigenschaft eines fortgeschrittenen Gottgeweihten. Er hat selbst
keine Sorgen, aber er macht sich Sorgen über die Not anderer. Ein fortgeschrittener Gottgeweihter
kann das nicht ignorieren.
Der geistige Meister wird sich mit gar mancher Verpflichtung, die aus den schlechten und
unerwünschten Handlungen der Schüler hervorgeht, auseinandersetzen müssen. Er hat die Pflicht, die
Schüler durch seine Anweisungen zu führen. Wenn der Arzt einen Patienten angenommen hat und
dieser Patient Schmerzen leidet, dann mag er innerlich vielleicht beunruhigt sein: "Ich habe die Obhut
für diesen Patienten übernommen, und doch kann ich sein Problem nicht beseitigen." Auf diese
Weise kann er durchaus eine gewisse freiwillig übernommene Verpflichtung spüren.
Der geistige Meister kann verschiedene Arten von Leiden auf ganz unterschiedlichen Stufen erfahren.
Manchmal mag ein guru empfinden: "Ich tue alles was in meiner Macht steht, um diesem Schüler zu
helfen." Solch ein guru nimmt nicht sehr viel Verantwortung für seinen Schüler auf sich. Er denkt:
"Ich erfülle meine Pflicht", und mit dieser Haltung behandelt er seinen Schüler. Das ist genau wie
im Fall des behandelnden Arztes oder des Hausarztes. Der Hausarzt kann die Verpflichtung, sich um
seinen Patienten zu kümmern, nicht abschütteln; aber ein Arzt von ausserhalb kann sagen: "Wenn Sie
wollen, dann ziehen Sie doch einen anderen Arzt hinzu." Der beratende Arzt ist mit seinem Patienten
nicht so gewissenhaft. Er mag fühlen: "Ich bin nicht vollkommen; ich kann ihn nicht sofort heilen.
Ob er sich erholt liegt in Gottes Hand. Ich kann nur mein Bestes geben." Vom Anfang ihrer
Beziehung an kann ein guru sich seinem Schüler mit dieser Haltung nähern, genau wie es ein Arzt
bei seinem Patienten tut. Die Frage, wieviel Verantwortung der guru für den einzelnen Schüler
übernimmt, hängt ab von der Haltung, die er in bestimmten Fällen seinem Schüler gegenüber
einnimmt.
Schüler: Hängt der Fortschritt des Schülers mehr vom guru ab oder mehr von den eigenen
Bemühungen? Und wie wird der Schüler angemessenen Fortschritt machen, während er die
Grundsätze seines guru befolgt?
Srila Sridhara Maharaja: Das hängt von der Ebene der Verwirklichung des Schülers ab. Der Schüler
muss dem guru eine Hingabe entgegenbringen, die alles andere ausschliesst. In der
Sveta-Svatara-Upanishad (6.23) heisst es:
"Der Schlüssel zum Erfolg im spirituellen Leben ist unerschütterliche Hingabe, sowohl an den geistigen Meister als auch an Krishna. Jenen grossen Seelen, die sowohl Krishna als auch dem geistigen Meister uneingeschränkten Glauben entgegenbringen, wird die tiefste Bedeutung der Schriften völlig offenbart." Der guru ist Krishnas Stellvertreter. Wir sind auf der Suche nach Gott, und deshalb müssen wir versuchen, unsere ganze Energie auf den Punkt zu konzentrieren, an dem wir eine wirkliche Verbindung zu Gott finden, wo immer das auch sein mag. Das ist der Schlüssel zum Erfolg, denn Krishna ist sich all unserer Anstrengungen bewusst. Die Antwort auf unsere hingebungsvollen Bemühungen wird also von Krishna kommen, entsprechend unserer Aufmerksamkeit Ihm gegenüber. Er ist allgegenwärtig. In der Vorstellung vom Unendlichen gibt es überall nur die Mitte und nirgendwo den Rand. Jeder Punkt kann die Mitte in sich tragen. Prahlada Maharaja erblickte das Zentrum überall. Hiranyakasipu fragte ihn: "Ist dein Gott in dieser Säule?" Prahlada antwortete: "Ja. Er ist da." Und als Hiranyakasipu die Säule zerstörte, kam Sri Nirshingadeva heraus.
Schüler: Kannst du die Vorstellung von der absoluten und der relativen Stellung des geistigen
Meisters erklären?
Srila Sridhara Maharaja: Durch den besonderen Willen von Krishna ist gurudeva eine
bevollmächtigte Autorität. Wenn wir den geistigen Meister ganz aufmerksam betrachten, werden wir
die Vollmacht erkennen, die von Krishna kommt, und dementsprechend sollten wir ihn anerkennen.
Der geistige Meister ist ein Geweihter Krishnas, und gleichzeitig ist er von Krishnas göttlicher
Eingebung erfüllt. Das sind die zwei Aspekte von gurudeva. Er sieht aus wie ein Vaishnava, und der
erleuchtete Teil dieses Vaishnava, das ist der guru. An einem Fastentag wie zum Beispiel ekadasi isst
er kein Getreide. Er benimmt sich ganz wie ein Vaishnava; gleichzeitig aber opfern seine Schüler
Getreide zum Bildnis ihres guru auf dem Altar. Die Schüler bringen ihrem geistigen Meister sogar
an einem Fastentag Getreide dar. Für den Schüler ist allein die Bevollmächtigung durch den Herrn
von Bedeutung, das innere Selbst des guru, der erleuchtete Teil seines Wesens. Das was an einem
Vaishnava erleuchtet ist, das ist acarya oder guru. Der Schüler beachtet nur diesen besonderen,
diesen erleuchteten Wesensteil an seinem guru. Er beschäftigt sich vorwiegend mit diesem Teil seiner
Persönlichkeit. Aber gurudeva selbst tritt gewöhnlich als Vaishnava auf. Deshalb wird sein Verhalten
gegenüber seinen Schülern und sein Umgang mit anderen Vaishnavas ganz verschieden sein. Das
nennt man acintya-bhedabheda, die unvorstellbare Einheit in der Vielfalt.
Dabei kann es Nachahmung oder auch Abweichung geben. Beides ist möglich. Wenn jemand
Hintergedanken hat, dann kann er aus der Stellung des guru auch ein Geschäft machen, wie es im
Fall der Kastengoswamis und der Sahajiya-Nachahmer geschehen ist. Man kann aus ganz
unterschiedlichen Gründen als guru auftreten, aber die Anzeichen eines wirklichen guru werden in
den Schriften (Srimad-Bhagavatam 11.3.21) genannt: "Ein echter geistiger Meister muss mit den
Schlussfolgerungen der vedischen Literatur vertraut und in der Verwirklichung der höchsten Wahrheit
gefestigt sein" (sabde pare ca nisnatam brahmany upasamasrayam).
Jeder kann sagen: "Ich bin guru, er ist kein guru." Nachahmung ist immer möglich, aber die
Schriften liefern den Massstab für die Auswahl eines wirklichen guru, und nur dieser wirkliche guru
kann den tieferen Sinn der heiligen Schriften sichtbar machen. Guru und sastra sind von einander
abhängig. Sie tragen zusammen zu unserer Erbauung bei. Die Schriften sagen aus, dass wir sie unter
der Anleitung eines geeigneten Lehrmeisters, eines Vaishnava-guru, lesen müssen (acaryavan puruso
veda). Das Verständnis der heiligen Schriften hängt also vom geistigen Meister ab. Und wer ist ein
geistiger Meister? Das wiederum erklären die Schriften. Sie sind also beide von einander abhängig:
sadhu und sastra, beide sind notwendig. Sie stehen für den aktiv Handelnden und das passive Mittel.
Schüler: Kannst du erklären, warum Krishna in Gestalt so vieler verschiedener gurus erscheint?
Warum muss Krishna immer und immerwieder erscheinen? Können wir denn nicht alles, was wir
wissen müssen, durch das Lesen der Bhagavad-Gita erfahren? Worin liegt die Notwendigkeit einer
unaufhörlichen Offenbarung? Enthalten denn die alten Bücher nicht all die Wahrheiten, die wir
kennen müssen?
Srila Sridhara Maharaja: Im Srimad-Bhagavatam sagt Krishna: "Am Anfang habe ich der Welt das
vedische Wissen durch Brahma übermittelt. Dieses Wissen wurde dann seinen Schülern anvertraut:
den vier Kumaras, Marichi, Angira und anderen Weisen." Sie wurden zuerst mit diesem Wissen
ausgestattet, und später wurde es in Büchern niedergelegt.
Zuerst wurde es in der Form von Klang übermittelt und nicht in geschriebener Form. Nach und nach
wurde es schriftlich festgehalten. Am Anfang kam es unmittelbar als Klang herab, ging von einem
Menschen zum anderen, vom Mund zum Ohr. Zu der Zeit war die Schrift noch nicht erfunden,
sondern das Wissen wurde in Form von Klang aufgenommen. Während es so durch das Ohr zum
Mund gelangte und von dort wieder zum Ohr eines anderen, ging es nach und nach verloren. In
dieser Verbindung mit demjenigen, der es weitergibt, geht es manchmal verloren oder wird entstellt
oder verzerrt, und dann verspürt der Herr erneut die Notwendigkeit, in dieser Welt zu erscheinen
(Bhagavad-Gita 4.7: yada yada hi dharmasya).
Manchmal kommt Krishna Selbst und manchmal sendet er einen gewöhnlichen Menschen, um den
Massstab für die wahre Religion wieder herzustellen. Krishna sagt (Bhagavad-Gita 4.2.): "Dieses
karma-yoga, über das Ich zu dir gesprochen habe, Arjuna, das habe Ich zuerst Surya mitgeteilt, und
von Surya ausgehend wurde es Generation um Generation heruntergereicht. Auf diese Weise ist es
verstümmelt und entstellt worden. Und deshalb erkläre Ich dir heute noch einmal genau das gleiche."
Auf unserer abgeschwächten Bewusstseinsebene wird die Wahrheit allmählich ausgehöhlt. Die
Wahrheit strahlt hell, wenn sie zuerst erscheint, aber nach und nach wird sie durch den Kontakt mit
dieser beschränkten Wirklichkeitsebene schwächer, entstellt und verdorben. Deshalb erscheint
Krishna von Zeit zu Zeit, um sie zu erneuern und wiederaufleben zu lassen.
Schüler: Gibt es irgendeinen Unterschied zwischen einem acarya und einem guru?
Srila Sridhara Maharaja: guru und acarya sind das gleiche. Aber ganz allgemein kann man sagen,
dass ein acarya umfangreichere Arbeit leistet. Ein acarya muss auch die Schriften in umfassender
Weise kennen, während ein guru vielleicht keine besonders tiefgehende Kenntnis von den Schriften
hat, aber durchaus echtes Wissen von ihrem Sinn besitzt. Er ist vielleicht nicht in der Lage,
umfassend aus den Schriften zu zitieren, empfindet aber ihre tiefere Bedeutung. So jemand kann guru
sein. Ein acarya aber leistet eine ausgedehnte Predigtarbeit und muss dazu in der Lage sein, für seine
Aussagen umfangreiche Nachweise aus den Schriften zu erbringen.
Schüler: Es gibt sehr viele nachgemachte gurus, die als Vaishnavas verkleidet sind, aber nur darauf
aus sind, die arglose ôffentlichkeit zu täuschen. Wie können wir wissen, ob jemand ein echter guru
oder ein Betrüger ist? Wie können wir sicher sein, wann wir wirkliches Wissen erhalten und wann
wir betrogen werden?
Srila Sridhara Maharaja: Wir müssen herausfinden, wo die Quelle seines Wissens ist. Auf dem
Marktplatz mag unechtes Gold angeboten werden; aber wenn wir sicher sind, dass das Gold, das wir
kaufen wollen, aus einer bestimmten Mine kommt und wenn wir die Garantie erhalten, dass sich
unterwegs niemand daran zu schaffen gemacht hat, dann können wir es unbesorgt kaufen. Es gibt nur
eine Möglichkeit, sicher zu gehen: Man muss den Ursprung untersuchen.
So wollte damals zum Beispiel Gandhi das Cherka-System für selbstgesponnenes Tuch
wieder einführen. Im Cherka-System fertigen die Armen das Garn auf Spinnrädern selbst an, und
wenn jeder den selbst hergestellten Stoff, der Kadi genannt wird, kauft, dann gelangt das Geld direkt
in die Taschen der Armen. Aber die japanischen und englischen Textilfabriken schickten damals
nachgemachten "selbstgesponnenen" Kadi hierher. Sie fingen an, in fabrikmässigem Umfang grobes
Tuch zu erzeugen, indem sie den selbstgesponnenen Stoff, der hier von den Armen hergestellt wurde,
nachmachten. Gandhi war darüber bestürzt. "Was ist das?", fragte er sich. "Ich möchte, dass das Geld
zu den érmsten gelangt, und jetzt stellen die Kapitalisten im Ausland nachgemachten groben Stoff
her, der dann in Indien verkauft wird. Und anstatt, dass das Geld zu den Armen hier in Indien
gelangt, erhalten es die ausländischen Kapitalisten." Daraufhin gründete er eine Genossenschaft, die
Kadi-Handelsgesellschaft, und erklärte seinen Gefolgsleuten: "Ihr dürft selbstgesponnenes Tuch nur
noch in den Läden kaufen, die mit meiner Gesellschaft verbunden sind. Dann wird das Geld sicher
in die Hände der Armen gelangen." Damals sagte er: "Das ist guru-parampara, das System der
Schülernachfolge."
Wenn die offenbarte Wahrheit unverfälscht mittels eines besonderen Vorgangs herabkommt, das ist
parampara. Wir müssen uns mit einer vertrauenswürdigen Nachfolgelinie verbinden. Nur dann
können wir die echte Sache erhalten. Die autorisierte Verbindung ist notwendig, guru-parampara ist
notwendig. Bevor wir also ein Buch von irgend jemandem lesen, sollten wir herausfinden, wer sein
guru ist und von wo der Wesensgehalt herabkommt. Ist das Ganze nur Fassade, oder gibt es auch
einen wirklichen Gehalt darin? Wenn wir erkennen können, dass der Autor in Verbindung mit einem
glaubwürdigen sadhu steht, dann dürfen wir ihm Aufmerksamkeit schenken.
Ich benutze gern das Beispiel vom homöopathischen Kügelchen. Das blosse Kügelchen allein hat
keinerlei medizinischen Wert. Seine Kraft liegt darin eingeschlossen. Ein gewöhnlicher guru mag
seinem Schüler das gleiche mantra geben, aber wie steht es um die Kraft, die in dem Klang
eingeschlossen ist? Welche Schöpfungseigenschaft oder welcher göttliche Wille ist in diesem Klang
enthalten? Das ist äusserst wichtig. Das mantra von einem sad-guru, einem echten guru, zu erhalten
bedeutet, dass man die in ihm enthaltene Barmherzigkeit - oder anders ausgedrückt - die wirkliche
Vorstellung vom Herrn erhält. Der Same eines Banyanbaumes mag klein sein, aber der ganze riesige
Banyanbaum wird aus diesem Samen hervorgehen.
Der Gesinnung, die der guru mit diesem besonderen Klang an den Schüler weitergibt, kommt die
grösste Bedeutung zu. Wir können das vielleicht momentan nicht feststellen, aber im Lauf der Zeit,
wenn die Umgebung günstig ist, wird sie sich ganz von selbst offenbaren und zu etwas Grossem
entfalten. Wenn wir also irgend etwas erwerben wollen, dann müssen wir sehr sorgfältig darauf
achten, ob es echt ist, denn sonst können wir betrogen werden.