Krishna-Bewusstsein, die Vorstellung vom spirituellen Sein in seiner höchsten Ausprägung, kommt
herab, indem es von einer Stufe zur nächsten fliesst, genauso wie der Ganges, der am höchsten Gipfel
entspringt und in zahllosen Windungen die Berge herabfliesst. An einigen Stellen vermischt sich etwas
Wasser des Ganges mit der Strömung des Flusses Saraswati. Dieses Wasser gilt dann nicht als
Gangeswasser. Wenn sich aber das Wasser der Saraswati mit der Strömung des Ganges vereinigt,
dann wird es als Gangeswasser angesehen. Das Wasser, das an der Stelle, an der die beiden Flüsse
zusammentreffen, vom Ganges wegfliesst, ist kein Gangeswasser. Aber wenn die Wasser der
Saraswati sich in den Lauf des Ganges ergiessen, dann werden sie in Gangeswasser umgewandelt.
Und dieses Wasser wird uns reinigen, ganz gleich an welchem Ort es auch immer entsprungen ist.
Es heisst, dass alles Wasser, das von der Strömung des Ganges aufgenommen und mitgeführt wird,
wirkliches Gangeswasser ist. Dieses Wasser wird uns reinigen, woher es auch ursprünglich
gekommen sein mag.
Die reinigende Kraft dieses Wassers hat nichts mit dem Wasser zu tun, das wir berühren und sehen
können. Denn was können wir mit unseren leiblichen Augen schon sehen? Die Strömung des Ganges
ist rein. Durch den Lebenshauch Gottes und Kraft Seiner Billigung ist dieser Strom ein lebendiges
Wesen und kann jeden reinigen.
Also, das Kernstück der guru-parampara, der Schülernachfolge, ist siksa, die spirituelle
Unterweisung, und wo immer man sie ausfindig machen kann, da ist guru. Jemand, der die
transzendentale Sicht hat, den göttlichen Blick, der wird den guru erkennen, wo immer er auch
erscheint. Jemand, der das Wissen von der absoluten göttlichen Liebe in ihrer reinsten Form besitzt
- der ist guru. Sonst wäre die guru-parampara nur eine Körper-parampara, eine Aufeinanderfolge
von Körpern. Und dann würden die Kasten-Brahmanen und die Kasten-Goswamis mit ihrem Geschäft
einfach weitermachen, denn sie erhalten ja so ihr mantra, von einem Körper zum anderen. Aber ihr
mantra ist tot. Wir aber streben nach einem lebendigen mantra, und wo immer wir die lebendige
Strömung hin zu einer höheren Art von hingebungsvollem Dienst ausfindig machen können, werden
wir entdecken, dass da unser guru ist. Derjenige, bei dem diese Sichtweise erweckt worden ist, wird
den guru erkennen, wo immer dieser auch erscheinen mag.
Einweihung in das mantra bedeutet die Übertragung von wirklichem Wissen und einer
hingebungsvollen Geisteshaltung von einem zum anderen. Und das muss echt sein. Über ein
homöopathisches Kügelchen kann man durch eine rein äusserliche Untersuchung nichts herausfinden,
denn seine Kraft ist in ihm eingeschlossen. Genauso ist das Wichtige am mantra die Art des Denkens
oder die Art der Empfindung, die durch diesen Klang übertragen wird. Diejenigen, die Gott in Form
Seiner unpersönlichen Ausstrahlung verehren, benutzen das gleiche mantra, und sie singen auch
Krishnas Heiligen Namen, aber in der Weise, wie sie diesen Namen gebrauchen, wird er sich im
brahmajyoti verlieren. Sie werden deshalb den Viraja nicht überqueren können, den Strom, der die
materiellen Universen von der geistigen Welt trennt. Wenn ein mayavadi, ein
Unpersönlichkeitsanhänger, den Namen von Krishna singt, dann klingt das - in Bhaktivinoda
Thakuras Worten - in Krishnas Heiligen Ohren nicht anders als ein Donnergrollen. Es bringt
keinerlei beruhigende Wirkung hervor.
Die Gaudiya-Math-Schülernachfolge befasst sich mit dem Kern der Wirklichkeit und nicht mit ihrem
äusseren Rahmen. Wir wollen verstehen lernen, wie die Dinge in der spirituellen Geisteswelt
beschaffen sind. Wir sind von der äusseren Form allein nicht hingerissen oder gar gefesselt. Wir sind
daran interessiert, das geistige Denken Schritt für Schritt zu entwickeln. Srila Rupa Goswami stellt
in seiner Upadesamrta (10) fest: "Unter vielen materialistischen Menschen mag einer ein Philosoph
sein. Von vielen Philosophen mag einer Befreiung erlangen und sich dem hingebungsvollen Dienst
zuwenden. Und von vielen Gottgeweihten wird vielleicht einer die reine Liebe zu Krishna erlangen.
Dieser ist der Beste von allen" (karmibhyah parito hareh priyataya vyaktim yayur jnaninas, tebhyo
jnanavimukta bhakti-paramah premaika nisthas tatah).
Wir wollen diese Stufenfolge verstehen lernen: Was ist der Viraja-Fluss, was ist der spirituelle
Himmel, was der Planet von Shiva, was die Vaikunthawelt von Vishnu, Sri Ramas Ayodhya, und
welchen Unterschied gibt es zwischen Krishna in Dwaraka, Mathura und Vrindavan? Wir wollen ein
wirklichkeitsgetreues Verständnis der gesamten Stufenfolge des hingebungsvollen Dienstes
entwickeln. Im Srimad-Bhagavatam (11.14.15) zeigt Krishna diese verschiedenen Ebenen. Dort sagt
Er:
"Weder Brahma, noch Shiva, weder Sankarshana von Vaikuntha, noch Lakshmidevi, die Göttin des
Glücks, ja nicht einmal Mein eigenes Selbst ist Mir so lieb wie du. Du bist Mir der Liebste von
allen, Uddhava."
Wir müssen der geistigen Linie folgen; zwischen Jahnava-Devi, der Frau von Nityananda, und
Vipina Goswami, von dem Bhaktivinoda Thakura Einweihung nahm, gab es eine ganze Reihe von
unbekannten weiblichen gurus. Durch sie kam das mantra zu Vipina Goswami und von ihm erhielt
es Bhaktivinoda Thakura. Wir akzeptieren Bhaktivinoda Thakura, aber wie steht es um diese Frauen
in unserer Schülernachfolgelinie? Welche Verwirklichung hatten sie?
Wir sind Sklaven der Wahrheit. Wir betteln um den reinen Strom der Wahrheit, der ununterbrochen
fliesst: den unverdorbenen, reinen Strom. éusserlichkeiten sind für uns in keiner Weise reizvoll. Wo
immer ich den Strom dieses göttlichen Nektar auf mich herabkommen fühle, dort werde ich mich
demütig verneigen. Wenn sich jemand der Tatsache bewusst ist, dass die Absolute Wahrheit von der
höchsten Sphäre zu ihm herabsteigt, dann wird er denken: "Dieser Sache muss ich mich hingeben."
Mahaprabhu sagt zu Ramananda Raya: "Wo immer die Wahrheit erscheint, wo immer der Nektar der
göttlichen Ekstase herabkommt, dort werde ich mich als Sklave darbringen. Das allein ist mir
wichtig", (kiba vipra, kiba nyasi, sudra kene naya, yei krsna-tattva vetta sei guru haya). Welche
Form die Wahrheit dabei annimmt, ist nur von geringer Bedeutung. Die Form hat einen gewissen
Wert, aber wenn es dabei zu irgendeinem Interessenkonflikt kommt, dann muss man dem inneren
Gehalt einer Sache in jedem Fall einen sehr viel höheren Wert beimessen als ihrer äusseren
Erscheinung. Denn wenn dieser innere Gehalt einer Sache verloren gegangen ist und die materielle
Auffassung die Oberhand gewinnt, dann wird unser sogenanntes spirituelles Leben zu Sahajiyatum,
einer billigen Nachahmung.
Wenn wir das eigentliche Wesen des Krishna-Bewusstseins erfasst haben und uns des wirklichen
Schatzes bewusst sind, den wir von unserem geistigen Meister empfangen, dann kann unser
spirituelles Leben nicht zur Imitation werden. Unser Bewusstsein muss so geschärft werden, dass wir
die Anweisung unseres guru auch dann als solche erkennen, wenn wir sie von irgend jemand
anderem erhalten. Jemand, der hellwach ist, wird sich überlegen: "Das ist die Anweisung meines
guru. Sie kommt zu mir durch diesen Menschen. Auf irgendeine Weise ist sie zu mir gelangt. Ich
weiss nicht, wie das geschehen kann, aber ich erkenne in dieser Person die Eigentümlichkeiten meines
guru wieder, seine Handlungsweise und sein Verhalten." Wenn wir einmal fähig sind, eine Sache
nach ihrem inneren Wert zu beurteilen, dann können wir sie nicht mehr übersehen, wo immer wir
ihr auch begegnen.
Ein Beispiel aus dem Leben von Aurobindo Ghosh von Pondicherry soll das veranschaulichen. Er
war der erste Führer der anarchistischen Partei und praktisch der Begründer der revolutionären
Bewegung in Bengalen. Im Jahre 1928 wurde vor dem obersten Gerichtshof von Kalkutta ein Prozess
gegen ihn angestrengt. Die Anklageerhebung lag in den Händen von Herrn Norton, einem berühmten
Anwalt. Aurobindo war geflüchtet, und als sein Fall zur Verhandlung kam, konnte er nirgends
ausfindig gemacht werden. Norton war beunruhigt. Wie sollte er ihn finden? Aurobindo sprach ein
ausgezeichnetes Englisch. Er war von frühester Kindheit an in England erzogen worden und sprach
deshalb sogar besser Englisch als mancher Engländer. Norton begann daraufhin verschiedene
Zeitungen und Zeitschriften nach Aurobindos Artikeln zu durchforschen. Schliesslich entdeckte er im
Amrita Bazaar Patrika, einer bengalischen Zeitung, einen Artikel in Aurobindos Schreibstil. "Das ist
Ghosh!", rief er aus. Der Herausgeber des Amrita Bazaar Patrika wurde vorgeladen, um
herauszufinden, ob Aurobindo Ghosh den Artikel verfasst hatte. Norton befragte ihn: "Das ist ihre
Zeitung. Sie müssen wissen, wer diesen Artikel geschrieben hat. Sie sind der Herausgeber." "Ja, ich
weiss." "Kennen Sie Aurobindo Ghosh?" "Ja, ich kenne ihn. Ich halte ihn für einen der grössten
Männer der Welt." "Als Herausgeber dieser Zeitung frage ich sie, wissen sie, wer diesen Artikel
geschrieben hat?" "Ja, ich weiss es." "Hat Herr Ghosh diesen Artikel geschrieben?" "Darüber werde
ich keine Auskunft geben." Norton fragte ihn: "Wissen sie, was für eine Strafe auf
Aussageverweigerung steht?" "Ja, sechs Monate Freiheitsentzug." "Sind Sie dazu bereit?" "Ja, ich bin
dazu bereit." Daraufhin sagte Norton, indem er den Zeitungsartikel hochhielt: "Das da stammt von
Herrn Ghosh! Damit schliesse ich die Beweisaufnahme ab."
Er erkannte in diesem Artikel Aurobindo, und auf ganz ähnliche Weise müssen wir erkennen: "Hier
ist mein gurudeva." Auch unser geistiger Meister, Srila Bhaktisiddhanta Saraswati Thakura, pflegte
manchmal von einem seiner Schüler, der gerade weggegangen war, zu sagen: "Bhaktivinoda Thakura
ist hier gewesen aber ich habe ihn nicht erkannt." Diejenigen, deren göttliche Schau erweckt ist,
sehen immer und überall die Anzeichen des Göttlichen.
Wir müssen den nötigen Scharfsinn entwickeln, um die geistige Anwesenheit unseres guru
wiederzuerkennen. Mahaprabhu sagt: madhavendra purina sambandha dhara jani. Als Mahaprabhu
einst dem Brahmanen Sanodiya begegnete, stellte er nur an dessen Körperbewegungen augenblicklich
fest, dass dieser Brahmane irgendeine Beziehung zu Madhavendra Puri haben musste. Er sagte: "Wenn
er nicht da wäre könnte ich niemals solche Anzeichen übersinnlicher Ekstase finden. Das muss von
Madhavendra Puri kommen." Deshalb müssen wir das wahre Krishna-Bewusstsein kennenlernen. Es
heisst: zwischen dem geistigen Meister und der Absoluten Wahrheit darf man keinen Unterschied
machen (acaryam mam vijaniyan). Eine einzige Sache kommt vom Höchsten Herrn herab, und
deshalb dürfen wir die Einheit des zusammenhängenden Ganzen nicht ausser acht lassen. Der guru
kann uns in verschiedenen Gestalten entgegentreten. Der gleiche Lehrer kann in verschiedenen
körperlichen Formen zu uns kommen, um uns zu inspirieren. Er kann jederzeit kommen, um uns
neue Hoffnung zu schenken und ein besseres Verständnis zu vermitteln. Deshalb sollten wir dem
inneren Wesen der Dinge mehr Wert beimessen als der äusseren Form.
Zuerst muss man den Grad der Reinheit im Krishna-Bewusstsein begreifen. Die Formverehrer sind
einfach nur Nachahmer; sie wollen Mahaprabhu nur ausbeuten, ihm aber nicht wirklich dienen. Sie
sind unsere schlimmsten Feinde. Sie sind Verräter; sie geben sich den äusseren Anschein, als
gehörten sie zu Mahaprabhus sampradaya (Nachfolgelinie), aber das, was sie sagen, ist Schwindel.
Das ist billige Geschäftemacherei. Sie verkaufen in grossem Umfang verfälschte Wahrheiten zu einem
billigen Preis. Sie verspüren keinerlei innere Notwendigkeit, das höchste Ziel zu erreichen (pujala
ragapatha gaurava-bange). Obwohl er ein solch herausragender Vaishnava war, gab sich unser Guru
Maharaja niemals als ein grosser Gottgeweihter aus. Er pflegte immer zu sagen: "Ich bin ein Diener
des Dieners der Vaishnavas." Das war sein Anspruch. Und weiter sagte er: "Die fortgeschrittenen
Gottgeweihten sind meine gurus, von ihnen geht eine solche Begeisterung aus." Zuerst also komm
und übe dich in all diesen Dingen, dann erst kannst du darauf hoffen, das Ziel zu erreichen. Es ist
nicht so einfach und billig zu haben. Koti-mukta-madhye durlabha eka krsna bhakta - "selbst unter
vielen befreiten Menschen ist ein reiner Krishna-Geweihter etwas ganz seltenes".
Krishna-Bewusstsein ist etwas, das sich im Inneren ereignet. Nur dadurch kann man die reine
Wahrheit verstehen, oder unterscheiden, was Reinheit ist, oder prema, die wahre Liebe zu Gott, nach
der sogar Brahma und Mahadeva (Shiva) verlangen. Diejenigen, die diese innere Wahrheit nicht
wahrnehmen können, machen meist ein grosses Getue um die äussere Form. Das unterstützen wir
nicht. Wir fühlen uns vielmehr vom wirklichen inneren Gehalt angezogen. All die gegensätzlichen
Kräfte, die an Äusserlichkeiten interessiert sind, vermögen uns nicht zu berühren. Hunde mögen
bellen, aber das Bellen ist nicht wichtig. Weil sie soviel Aufhebens um das Äussere machen, erleben
sie keine wirkliche Reinigung des Herzens.