Schüler: Auf der Suche nach der geistigen Wahrheit mag es vorkommen, dass sich jemand einer
religiösen Bewegung anschliesst, um in Richtung auf das höchste Ziel voranzuschreiten. Es kann
jedoch sein, dass dort nach einiger Zeit spalterische Bestrebungen auftreten, die den Pfad des
Fortschritts versperren. So mag er vielleicht feststellen, dass innerhalb der Gemeinschaft nüchterne
Interessen vor den geistigen Idealen Vorrang gewinnen. Falls er dann die Notwendigkeit spürt, sich
anderswo umzusehen, werden ihm möglicherweise seine Autoritäten sagen, dass es keine höheren
Wahrheiten zu finden gibt. Er wird vielleicht sogar gewarnt werden, dass er ernsthafte
Rückwirkungen erleiden werde, wenn er die Gemeinschaft verlässt. So kann er zum Ausgestossenen
werden, als Ketzer gebrandmarkt, weil er das weiterverfolgt, was ihm aufrichtigerweise als das Ideal
erscheint, das einmal die Grundlage der Gemeinschaft gebildet hatte. Sollte er es wagen, die
Gemeinschaft zu verlassen und den Rat seiner unmittelbaren Vorgesetzten zu verwerfen, oder sollte
er versuchen, in der Gemeinschaft auszuhalten?
Srila Sridhara Maharaja: Fortschritt bedeutet, dass man ständig das eine verwerfen und etwas anderes
annehmen muss. Wenn es also einen Zusammenprall zwischen dem relativen und dem absoluten
Standpunkt gibt, dann muss man das Relative beiseite schieben und das Absolute annehmen. Stell dir
vor, du bist Amerikaner, in deinem Herzen aber bist du ein Sozialist. Unter normalen Umständen
wirst du ganz zufrieden als Amerikaner leben, aber wenn es einen Konflikt zwischen den Kapitalisten
und den Sozialisten gibt, welcher Partei wirst du dich anschliessen, der sozialistischen oder der
kapitalistischen?
Schüler: Ja.
Srila Sridhara Maharaja: Es entwickelt sich ständig weiter. Wir befinden uns im Stadium des
sadhana, der geistigen Übung, und wir wollen in unserem Leben fortschreiten. Wir wollen vorwärts
kommen, nicht zurückfallen. Die äussere Form wird mir dabei helfen, meinen gegenwärtigen
Entwicklungsstand zu bewahren; und die ausserordentliche Anziehung, die das höchste Ideal für mich
hat, wird mich immer weiter vorantreiben.
Du hast die Weltanschauung eines Sozialisten und lebst damit in einem Land, in dem die Kapitalisten
die Mehrheit bilden. Solange es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Gruppen gibt,
gibt es auch keine Auseinandersetzung; aber sobald es zu einem Zusammenstoss kommt, für welche
Seite wirst du dann Partei ergreifen? Innerlich magst du dich vielleicht als Sozialist fühlen, aber um
des Friedens willen und zum Wohl des Landes wirst du das nicht äusserlich zum Ausdruck bringen.
Aber stell dir vor, du seist ein hundertprozentig überzeugter Sozialist. Dann wirst du versuchen,
deine Überzeugung und die Reinheit deines Glaubens an die Sozialisten zu erhalten. Und deshalb
wirst du versuchen, das Land zu verlassen und dich den Sozialisten anzuschliessen.
Das Absolute und das Relative bilden also einen starken Interessengegensatz. Und für uns ist das
absolute Interesse von sehr viel grösserer Bedeutung. Wir müssen unserer Überzeugung treu bleiben.
Manchmal müssen wir unseren gesamten persönlichen Besitz aufgeben, wenn er nicht mehr zu uns
passt.
Und in der gleichen Weise gibt es sogar in der Auffassung von der Reinheit der Bewegung für
Krishna-Bewusstsein, die ja Ausdruck der Weltanschauung der Vaishnavas ist, innere Reinheit und
äussere Form. Die äussere Form ist notwendig, um mir ganz allgemein dabei zu helfen, meine
gegenwärtige Position zu erhalten. Und zur gleichen Zeit wird mich meine Vorstellung vom höheren
Ideal immer zum Fortschreiten anspornen, zum Weitermachen. Jedoch muss ich, wohin ich auch
gehe, immer dem besseren Vorbild folgen, dem höheren Ideal. Geistiges Leben entwickelt sich
ständig weiter, bleibt nie stehen. Kannst du mir folgen?
Das ist genauso wie bei all den anderen Gemeinschaften, in denen es ja auch fortschrittliche
Gruppierungen gibt: die fortschrittlichen Kommunisten oder das fortschrittliche Christentum. Da gab
es zuerst die Katholiken, dann die Protestanten, dann wiederum die Puritaner, und auf diese Weise
entwickelte sich das Christentum immer weiter. Es gibt also eine richtige und eine falsche
Entwicklung. Die Suche nach Sri Krishna ist dynamisch und lebendig, und deshalb muss es immer
auch Änderung und Wiederanpassung geben. Und dementsprechend sollten auch wir unsere
gegenwärtige Einstellung immer wieder verändern, damit wir nicht das hohe Ideal aufgeben müssen,
wegen dem wir ja gerade gekommen sind.
Nach dem Willen der Natur wird jemand in einem bestimmten Land geboren, aber in manchen Fällen
mag ihn sein hohes Ideal dazu veranlassen, dieses Land zu verlassen. Einstein musste wegen seiner
idealistischen Lebenseinstellung Deutschland verlassen und nach Amerika gehen. Und da gibt es
sicherlich noch viele ähnliche Beispiele in der Welt. Das Ideal ist das Ein und Alles. Das höchste
Ideal in einem Menschen ist sein grösster Schatz. Unser Ideal ist das wertvollste Juwel, das wir
besitzen.
In den Schriften werden viele Dinge empfohlen, aber sie alle sind nur dazu bestimmt, uns auf eine
indirekte Art dabei zu unterstützen, dass wir zur Wahrheit gelangen (sva-dharme nidhanam sreya).
Auf einer bestimmten Stufe wird allerdings empfohlen, dass wir um unserer engen Freunde willen
selbst unser Ideal aufgeben sollen. In der Bhagavad-Gita (18.66) aber lautet Krishnas endgültige
Anweisung: "Wenn es zur Aufrechterhaltung des höchsten Ideals notwendig ist, dann musst du auch
deine Freunde verlassen. Gib dich ganz Mir hin. In Mir liegt der eigentliche Sinn der Schriften",
(sarva- dharman parityajya mam ekam saranam vraja). Die grössten Idealisten verlassen ihr Land,
ihre Familien, ihre Freunde und geben alles auf, was sie besitzen, aber sie werden niemals ihre
Ideale aufgeben.
In der Bhagavad-Gita sagt Krishna: "Es ist besser zu sterben, während man seine eigene Pflicht
erfüllt, als zu versuchen, die Aufgabe eines anderen zu tun." Das ist die eine Ebene des Verstehens:
die relative Überlegung. In der Bhagavad-Gita wird aber auch die absolute Überlegung gegeben:
sarva-dharman parityajya mam ekam saranam vraja. Krishna sagt: "Gib alles andere auf und komm
geradewegs zu Mir." Das ist die revolutionäre Art. Das ist absolut! Und das ist relativ: "Bleib in
deiner gewohnten Gruppe, verlass sie nicht." Das ist der Vaterlandsgedanke. Es gibt eben
Nationalbewusstsein und Gottesbewusstsein; genauso wie es Gemeinschaftsbewusstsein und
Gottesbewusstsein gibt. Allein das Gottesbewusstsein ist absolut. Falls das Gemeinschaftsbewusstsein
die Entwicklung des Gottesbewusstseins behindert, sollte man es aufgeben. Das wird auch im Srimad
Bhagavatam bestätigt (5.5.18):
"Sogar ein geistiger Meister, ein Verwandter, ein Elternteil, der Ehegatte oder ein Halbgott, der uns
nicht vor dem wiederholten Kreislauf von Geburt und Tod bewahren kann, sollte schnellstens
aufgegeben werden." Ja, es kann sein, dass man sogar den guru verlassen muss, ganz zu schweigen
von gewöhnlichen Dingen. Vielleicht muss man sogar seinen geistigen Meister aufgeben, wie es bei
Bali Maharaja der Fall war, oder seine Verwandten, wie im Fall von Vibhisana. Prahlada musste
seinen Vater aufgeben und Bharata seine Mutter verlassen. Khatvanga Maharaja verliess die
Halbgötter, und die yajnapatnis (die Ehefrauen der brahmanas) liessen bei ihrem Bemühen, zur
höchsten Person zu gelangen, ihre Ehemänner zurück.
Die Gemeinschaft benötigen wir nur zur Unterstützung. Wenn unsere Bindung an die Gemeinschaft
uns daran hindert, uns zu entwickeln, dann müssen wir sie aufgeben und vorwärts schreiten. Es gibt
eben die absolute und die relative Überlegung. Wenn sie miteinander in Konflikt geraten, muss man
die relative Überlegung aufgeben und die absolute annehmen. Wenn meine innere Stimme, mein
geistiges Bewusstsein, zu dem Schluss gelangt, dass der Umgang mit einer bestimmten Gemeinschaft
mir nicht wirklich weiterhelfen kann, dann ist es eine schmerzliche Notwendigkeit für mich, sie
aufzugeben und schnell weiter in Richtung auf mein Ziel zu eilen, wohin auch immer mein geistiges
Bewusstsein mich führen wird. Alles andere ist Heuchelei, die meinen wirklichen Fortschritt aufhalten
wird. Niemand in der ganzen Welt wird uns aufhalten oder täuschen können, solange wir uns
aufrichtig bemühen; wir können uns nur selbst täuschen (na hi kalyana-krt kascid durgatim tata
gacchati). Wir müssen also gegenüber uns selbst und gegenüber dem Höchsten Herrn wahrhaftig
sein. Wir müssen aufrichtig sein.
Schüler: Wie sollten die Schüler den Auftrag ihres guru nach seinem Weggehen fortführen?
Srila Sridhara Maharaja: Du darfst dein Bewusstsein nicht vernachlässigen. Du musst hinausgehen und
wie ein Soldat kämpfen, um dein Land oder dein Volk oder deine Ehre zu retten. Deine Umgebung
darf nicht von deinen Launen abhängig sein. Du magst aufs äusserste bestürzt sein, aber du musst dem
ins Auge sehen. Wie verwirrend das Schlachtfeld auch erscheinen mag, als Soldat musst du kämpfen.
Denn sonst hättest du ja gar keinen Glauben an deine Sache.
Dabei kann es natürlich zu beunruhigenden Situationen kommen. Ich sollte besser sagen, es muss
dazu kommen, ja es kann sogar geschehen, dass Gottgeweihte einander bekämpfen. Aber trotz aller
Meinungsverschiedenheiten sollten wir nicht aufhören, von Mahaprabhu zu predigen. Weil unser
innig geliebter guru sich aus unserer Mitte zurückgezogen hat, müssen ganz einfach beunruhigende
Situationen auftreten. Ein solch grosses Unglück ist über uns hereingebrochen, wie könnten wir da
noch friedlich weiterleben? Als Folge dieses Unglücks muss es zu Störungen kommen und wir müssen
sie durchleben. Und doch müssen wir dabei ganz aufrichtig bleiben; wir müssen dieser Schwierigkeit
auf die rechte Weise begegnen. Denn sie ist ja nur deswegen über uns gekommen, damit wir uns
darin üben trotzdem in die richtige Richtung zu gehen.
Wir besitzen von dem, was wir von unserem geistigen Meister erhalten haben, nur eine sehr
ungefähre Vorstellung. Jetzt aber erleben wir die Dinge in einer Weise, dass wir uns in jeder Hinsicht
genau prüfen müssen. Wir müssen unsere Beweggründe ganz genau untersuchen. Das ist der Anfang
von atmaniksepa, der Selbstanalyse. Wir befinden uns sozusagen auf dem Prüfstand. Auf welche
Weise haben wir das, was von unserem geistigen Meister stammt, empfangen? Haben wir es mit der
rechten inneren Haltung aufgenommen oder dient es nur dazu, Eindruck zu machen? Jetzt ist die Zeit
gekommen, uns zu reinigen, uns auf die Probe zu stellen, ob wir echte Schüler unseres geistigen
Meisters sind, in Wahrheit seine Jünger oder nur dem äusseren Anschein und dem Lippenbekenntnis
nach. Wie sieht die Haltung eines wirklichen Schülers aus? Wenn wir in einer Gemeinschaft leben,
was ist dann der eigentliche Kern unserer Überzeugung? In welcher Haltung haben wir seine Lehren
angenommen? Wie fest ist diese Haltung in uns verwurzelt? Ein Feuer ist ausgebrochen, um zu
prüfen, ob wir standhalten. Haben wir seine Lehren tatsächlich angenommen? Oder ist alles nur
Heuchelei, eine billige Nachahmung? Dieses Feuer wird es an den Tag bringen.
Wir dürfen deshalb vor irgendwelchen widrigen Umständen keine Angst haben. Krishna sagt in der
Bhagavad-Gita (2.32): "Ein vortrefflicher ksatriya würde sich nach der Schlacht sehnen, die dir
bevorsteht" (sukhinah ksatriyah partha labhante yuddham idrsam). Ein schlechter Handwerker hadert
mit seinem Werkzeug. Unser karma ist gekommen, um uns ins Gesicht zu schauen, uns einzukreisen,
und wir können dem nicht ausweichen. Diese Störungen sind Auswirkungen unseres eigenen karma;
sie kommen aus uns selbst, deswegen dürfen wir uns nicht beklagen. Vielmehr müssen wir in der
rechten Weise damit umgehen.
Wir müssen das, was wir verstanden zu haben glaubten, noch eingehender untersuchen. Jeder muss
sich selbst fragen: "Wo stehe ich? Was ist mein wirkliches Bedürfnis? Und wie stark ist meine
Sehnsucht nach der echten Sache?" Wir müssen Willens sein, alle diese Gedanken auszudrücken und
offenzulegen. Das ist das wirkliche Betätigungsfeld für sadhana, die geistige Übung. Wir alle
brauchen diese Schwierigkeiten für unsere tägliche Übung, für unser Wachstum. Sonst können wir
ja gar nicht wissen, was Fortschritt wirklich ist, und dann werden wir zu Heuchlern und geben die
gleiche verfälschte Sache an andere weiter. Es ist also notwendig, dass wir viele Schwierigkeiten
erfahren, damit wir rein werden.
Und Gott irrt sich niemals. Er gebietet über die Welt, die uns umgibt. Das untersteht nicht unserer
Verantwortlichkeit. Die Verantwortung für das, was uns umgibt, ruht nicht auf unseren Schultern.
Wir tragen nur für uns allein die Verantwortung. Die Welt ist ganz in die Hände des Herrn gegeben.
Er hat mir noch nie etwas Unrechtes getan. Wenn ich wirklich aufrichtig bin, dann muss ich mich in
diese Welt fügen und Ihm völlig vertrauen. Bei der Prüfung unserer aufrechten Gesinnung kommt es
also auf die Standfestigkeit an, die wir in allen wechselvollen Umständen der Schlacht an den Tag
legen. Wir werden daraufhin geprüft, ob wir wirkliche Krieger sind oder nicht.
Was auch immer geschehen mag, dem müssen wir ins Auge sehen. Unter keinen Umständen darf ich
meinen Herrn, meinen guru , meinen Gauranga, meinen Radha-Govinda vergessen. Und auch unter
den denkbar ungünstigsten Umständen muss ich mit erhobenem Kopf dastehen und bekennen:
"Jawohl! Ich bin ein Diener dieser Nachfolgelinie, dieser sampradaya. Und wenn mich alle verlassen,
dann werde ich eben alleine dastehen." Mit dieser Haltung müssen wir vorwärts schreiten, wie auch
immer die Umstände aussehen mögen. Dann kann es sein, dass ich Anerkennung finde, etwa in der
Art: "Ja, selbst unter solch schwierigen Umständen hat er ausgeharrt." Dann werden die, die über
uns stehen, Gefallen an uns finden.
Wir müssen uns selbst genau prüfen. Wie eigennützig sind wir? Wie gross ist immer noch der Anteil
an schlechten Gewohnheiten (anarthas) in unseren Herzen? Wie sehr ist unser wirklicher Glaube
vermischt mit Unreinheiten, die von unserem karma herrühren, von unserem jnana, von begehrlichen
Gedanken und von anderen schmutzigen Dingen? All das muss herauskommen und es muss auf
verschiedene Weise ausgemerzt werden. Wenn wir das wirklich Gute erreichen wollen, dann kann
uns niemand aufhalten. Mit dieser Gesinnung müssen wir uns fortbewegen, und dann werden wir
auch verstehen können, wie die Dinge wirklich liegen.
Auch Christus hat zu seinen Jüngern gesagt: "Einer von euch wird mich verraten." Judas gehörte zu
den Zwölfen. Und deshalb sagte Jesus: "Unter euch Zwölfen ist einer, der wird mich heute nacht
noch an meine Feinde ausliefern." Auch das ist möglich. Er sagte: "Sogar du, Petrus, wirst mich
dreimal verleugnen, bevor der Hahn kräht." "Nein, nein, nein, niemals werde ich dich verleugnen."
Aber der Herr duldet nicht ein kleines bisschen Hochmut an einem Seiner Geweihten. Er möchte
Hingabe, vollständige Hingabe. Petrus sagte: "Nein, ich bin dein getreuer Diener." Aber eine solche
Art von Selbstgefälligkeit darf nicht bestehen bleiben. Auch Petrus wurde entlarvt, obwohl er der
Anführer der Apostel war. Der Herr duldet also gar keinen Hochmut.
In den Händen des Herrn sind alle Seine Geweihten nur Werkzeuge. Einst suchte ein
Moslemherrscher nach einem Schmeichler, einem "Ja-Sager". Früher war es üblich, an den
Königshöfen solche Schmeichler anzustellen. Ihre Aufgabe war es, zu allem, was der König sagen
würde, ihre Zustimmung zu geben. Der König also verkündete, dass er einen Schmeichler suche, und
viele Menschen kamen und bewarben sich um die Stelle. Und er begann, sie alle zu befragen:
"Glaubst du, dass du dein Amt auch richtig ausüben kannst?" "Ja, das glaube ich schon." "Ich denke,
dass du deine Pflicht nicht richtig erfüllen wirst." "Doch Herr, das werde ich ganz gewiss tun." Bis
auf einen einzigen wurden sie alle fortgeschickt. Als der König zu ihm sagte: "Ich glaube nicht, dass
du die Aufgabe eines Schmeichlers richtig ausführen kannst," da sagte dieser eine: "Das glaube ich
auch nicht." "Nein, nein, du wirst es können, du bist der geeignete Mann." "Ja richtig, ich bin der
Geeignetste." "Nein, vielleicht doch nicht, ich habe da meine Zweifel." "Ja, diese Zweifel habe ich
auch." Darauf sprach der König: "Das ist mein Mann." Und all die anderen, die ununterbrochen
darauf beharrt hatten, wie geeignet sie seien, all die wurden zurückgewiesen und mussten wieder
gehen.
Im Dienst des Herrn muss unsere Seele auch eine solche Gefügigkeit besitzen. Wir dürfen kein wie
auch immer geartetes Ego mehr haben. Das ist natürlich in rein äusserlichem Sinn gemeint, denn
wenn unsere Seele in jenes höhere Reich eingeht, dann besitzen wir ja noch unser ständiges inneres
Selbst. Die Position dieses Selbst ist eine ganz andere Angelegenheit. Aber dieses materielle Ich, das
muss Stück für Stück vernichtet werden. Und wenn man es ins Feuer wirft, dann wird es zu Asche
verbrennen.
Wir müssen bei unserer Zielsetzung in Richtung auf die Wahrheit eindeutig sein. Dronacarya war der
Waffenmeister, der astra-guru der Pandavas. Als er eines Tages den Fortschritt seiner Schüler prüfen
wollte, stellte er zu diesem Zweck einen künstlichen Vogel in einen Baumwipfel. Nacheinander
forderte er dann die Brüder auf, vorzutreten und zu zielen. Als erster kam Yudhisthira.
Dronacarya wies ihn an: "Bereite dich darauf vor, den Vogel dort zu treffen. Bist du fertig?" "Ja."
"Was siehst du?"
"Ich sehe den Vogel."
"Siehst du noch etwas anderes?"
"Ja, ich sehe auch euch alle."
"Geh weg." Dann kam ein anderer der Brüder an die Reihe. Dronacarya wies ihn an:
"Triff das Auge des Vogels. Dein Pfeil soll ihn genau an dieser Stelle treffen. Ziele jetzt. Was siehst
du?"
"Den Vogel."
"Sonst nichts?"
"Doch auch den Baum."
"Ach, geh weg."
Dann war Arjuna dran. Donacarya wies ihn an: "Mach dich bereit."
"Ja, mein Herr, ich bin fertig."
"Siehst du den Vogel?"
"Ja, ich sehe ihn."
"Den Baum auch?"
"Nein."
"Siehst du den ganzen Vogel?"
"Nein."
"Was siehst du dann?"
"Nur seinen Kopf."
"Den ganzen Kopf?"
"Nein."
"Was siehst du genau?"
"Nur das Auge."
"Kannst du wirklich nichts anderes sehen?"
"Ich kann nichts anderes sehen."
"Gut mein Junge. Dann schiess."
Das sollte unser Ziel im Leben sein - kämpfen oder sterben. Was auch immer für Umstände eintreten
mögen, um mir Angst zu machen, ich werde mich nicht fürchten. Selbst wenn meine eigenen Leute
meine Feinde zu sein scheinen, das macht nichts. Alles, was ich besitze, ist Er allein. Und Er duldet
nicht, dass irgend jemand sonst neben Ihm steht. Er ist Absolut. Er hat mich völlig in Seinem Besitz.
Dabei duldet Er keine Teilhaber. Auf diese Weise muss ich immer dorthin gehen, wohin mich mein
Gewissen führt. Durch den Willen Gottes können Freunde in Feinde verwandelt werden. Und Feinde
können zu Freunden werden, aber bei allem muss ich meinem Ideal treu bleiben. Wenn ich wirklich
fortschrittlich veranlagt bin, dann müssen bestimmte Dinge aufgegeben werden und es muss immer
Neuanfänge geben. Auf dem Weg zu unserer Selbstverwirklichung lässt sich das nicht vermeiden.
Auch in der Schule kommen nicht immer alle weiter. Manche bleiben sitzen und wir müssen dann
neue Klassenkameraden kennenlernen. Und wieder werden wir versetzt und wieder haben wir neue
Klassenkameraden, während alte zurückbleiben. Das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Das heisst
nicht, dass wir auf sie herabschauen. Vielmehr sind wir verständnisvoll. Wir werden versuchen, ihnen
so gut wie möglich zu helfen. Und doch kann es geschehen. Wir können es nicht ändern, denn das
ist die Natur des geistigen Lebens. Das heisst also, dass die absoluten und die relativen Grundsätze
immer miteinander in Konflikt geraten. Sie scheinen einander zu bekämpfen, aber man braucht nur
das absolute Prinzip anzunehmen und auf das relative zu verzichten.
Doch auch das Relative ist notwendig. Ein Junge muss sein ganzes Vertrauen in seinen
Grundschullehrer setzen, denn sonst wird sein Fortschritt verhindert. Er sollte nicht meinen, dass all
das, was sein Lehrer ihm beibringt, falsch oder minderwertig ist. Wenn er heranwächst, wird er auch
zu einem anderen Lehrer kommen, der ihm die höhere Bildung vermittelt. Das bedeutet aber nicht,
dass er deswegen seinen Grundschullehrer missachtet oder unverschämt behandelt. In unserem eigenen
Interesse müssen wir all das annehmen, was irgendwie dem ähnlich ist, was wir von unserem guru
maharaja empfangen haben. Wir müssen all das annehmen, was dazu geeignet ist, uns geistig noch
mehr zu erhellen, und alles, was uns helfen wird, noch deutlicher zu begreifen, was wir von unserem
guru maharaja gehört haben.
Denn was habe ich mir als Gefangener meines Verstandes durch meine Gelehrsamkeit schon gross
angeeignet? Gott ist nicht endlich. Er ist unendlich. Soll ich mich etwa nur an dem festklammern,
wie ich Ihn in meine Gehirnzellen eingesperrt habe? Wie ist das eigentlich? Besitze ich eine lebendige
Verwirklichung oder ist sie nur etwas Totes? Gibt es da überhaupt irgendein Wachstum? Kann das,
was ich von meinem geistigen Meister empfangen habe, wirklich wachsen? Oder ist es etwa schon
vollendet? Habe ich etwa schon diese unermessliche Entwicklungsstufe erreicht, von der aus ich nicht
weiter fortschreiten kann?
Wenn jemand behauptet, er hätte diese Stufe erreicht und dass es von da aus nichts mehr zu
verwirklichen gäbe, dann bringen wir ihm unsere Ehrerbietungen höchstens von weitem entgegen.
Denn einer solchen Haltung huldigen wir nicht. Wenn jemand von sich glaubt, dass er mit allem
fertig ist, dass er Vollkommenheit erlangt hat - gerade das hassen wir! Selbst ein acarya sollte sich
eher für einen Schüler halten als für einen fertigen Professor, der schon alles weiss. Man sollte sich
selbst immer für einen aufrichtigen Schüler halten. Denn wir sind ja hergekommen, um das
Unendliche zu begreifen und nicht irgendeine begrenzte Sache. In der Weise wird es den Kampf
zwischen dem begrenzten und dem unbegrenzten Wissen immer geben.
Sollten wir etwa denken: "Das, was ich verstanden habe, ist absolut?" Nein! Unser Wissen ist noch
nicht vollendet. Wir müssen immer noch mehr erfahren. Selbst Brahma stellt fest: "Von Deiner
Macht werde ich vollständig getäuscht, mein Herr. Im Vergleich dazu bin ich ein Nichts." Jeder, der
mit dem Unendlichen in Berührung gekommen ist, kann nichts anderes sagen als: "Ich bin ein
Nichts." Das sollte der springende Punkt sein. Srila Krishnadas Kaviraja Goswami, der die
bedeutendste Schrift der Gaudiya Vaishnavas verfasst hat, stellt fest: "Ich bin geringer als irgendein
Wurm im Kot" (purisera kita haite muni sei laghista). So lautet seine Feststellung und er sagt das
ganz aufrichtig. Sollten wir uns deshalb schämen, unseren schlechten Charakter, unsere geringe
Entwicklungsstufe zu offenbaren, was ja gerade den Reichtum eines Schülers ausmacht? Wir werfen
uns ja eben deshalb vor seinen Lotosfüssen nieder, weil er diesen schlechten Charakter offen gezeigt
hat. Und wenn jemand behauptet: "Ich besitze das vollendete Wissen. Sogar Sri Chaitanya, Gott
Selbst, ist mein Schüler," der sollte als der grösste Feind, den es auf der Welt gibt, betrachtet
werden!