In der kurzen Zeit von nur zehn Jahren überflutete Bhaktivedanta Swami Prabhupada die ganze Welt
mit Krishna-Bewusstsein. In dem nun folgenden Auszug aus einem seiner Vorträge zerstört er die
falsche, sektiererische Vorstellung, dass der geistige Meister auf eine bestimmte Person, Form oder
Institution begrenzt sei und verschafft der allgemeingültigen Vorstellung über den guru Geltung.
saksad-dharitvena samasta-sastrair
"In den offenbarten Schriften wird erklärt, dass der geistige Meister wie die Höchste Persönlichkeit
Gottes verehrt werden soll, und die reinen Geweihten des Herrn befolgen diese Anordnung. Der
geistige Meister ist der vertrauteste Diener des Herrn. Deshalb lasst uns unsere respektvollen
Ehrerbietungen den Lotosfüssen unseres geistigen Meisters darbringen."
uktas tatha bhavatya eva sadhbih
kintu prabhor yah priya eva tasya
vande guroh sri-caranaravindam
Meine Herren! Im Namen der Mitglieder der Bombay-Sektion der Gaudiya Math möchte ich Sie alle
ganz herzlich willkommen heissen und Ihnen danken, dass Sie so freundlich waren zu kommen und
heute abend an den Feierlichkeiten unserer Gemeinschaft zu Ehren der Lotosfüsse des Weltenlehrers,
unseres acaryadeva teilnehmen. Er ist der Begründer dieser Gaudiya-Mission und auch der
Vorsitzende acarya der Sri Sri Vishva Vaishnava Raja Sabha - ich spreche von meinem ewigen
göttlichen Meister Om Vishnupada Paramahamsa Parivrajakacharya, Sri Srimad Bhaktisiddhanta
Sarasawti Goswami Maharaja. An diesem glücksverheissenden Tag vor 62 Jahren folgte der
acaryadeva dem Ruf von Thakura Bhaktivinoda und erschien in Sri Kshetra, Jagannatha Dhama in
Puri.
Meine Herren, die Darbringung einer solchen Huldigung an den acaryadeva, wie sie für heute abend
vorgesehen ist, ist keine konfessionsgebundene Angelegenheit. Denn wenn wir von dem
grundsätzlichen Prinzip des gurudeva oder acaryadeva sprechen, dann sprechen wir über etwas von
universeller Bedeutung. Da kann gar nicht das Problem auftauchen, meinen guru von Ihrem guru
oder vom guru irgendeines anderen zu unterscheiden. Es gibt nur einen einzigen guru, der in einer
unendlichen Vielfalt von Formen erscheint, um Sie, mich und alle anderen zu unterweisen. In der
Mundaka Upanishad steht (1.2.12):
tad-vijnartham sa gurum evabhigacchet
"Um die transzendentale Wissenschaft zu erlernen, muss man sich einem rechtgläubigen geistigen
Meister nähern, der in der Absoluten Wahrheit fest verankert ist und einer Schülernachfolge
angehört."
samit-panih srotriyam brahma-nistham
Damit wird ganz klar ausgedrückt, dass man sich an einen guru wenden muss, um dieses
transzendentale Wissen zu erhalten. Wenn also die Absolute Wahrheit eins ist, worüber es, wie wir
glauben, keine Meinungsverschiedenheiten geben kann, dann kann der guru nicht zwei sein. Wir
haben uns heute abend hier versammelt, um dem acaryadeva unsere demütigen Ehrerbietungen zu
erweisen. Und dieser acaryadeva ist nicht der guru einer sektiererischen Institution oder einer von
vielen verschiedenen Vertretern der Wahrheit. Im Gegenteil, er ist der jagad-guru, der guru von uns
allen; der einzige Unterschied besteht darin, dass manche ihm aus ganzem Herzen gehorchen,
während andere ihm nicht unmittelbar folgen. Im Srimad Bhagavatam (11.17.27) heisst es:
acaryam mam vijaniyan, navamanyeta karhicit
na martya-buddhyasuyeta, sarva-deva mayo guruh
"Man soll verstehen", sagte der Gesegnete Herr, "dass der geistige Meister genauso gut ist, wie Ich
es Selbst bin. Niemand soll den geistigen Meister beneiden oder ihn als gewöhnlichen Menschen
ansehen, denn der geistige Meister ist die Gesamtsumme aller Halbgötter." Das bedeutet, dass der
acarya mit Gott Selbst gleichgesetzt wird. Er hat mit den Angelegenheiten dieser irdischen Welt
nichts zu tun. Er erscheint vor uns, um uns das Licht der Veden zu offenbaren und uns die
Segnungen der völligen Freiheit zu gewähren, nach der wir bei jedem einzelnen Schritt unseres
Lebens streben sollten.
Gott hat das transzendentale Wissen der Veden zuerst dem Brahma enthüllt, der der Schöpfer dieses
Universums ist. Von Brahma kam dieses Wissen herab auf Narada, von Narada zu Vyasadeva, von
Vyasadeva zu Madhva. Durch diesen Vorgang der Schülernachfolge wurde das transzendentale
Wissen von einem Schüler zum nächsten weitergereicht, bis es Sri Gauranga - Sri Krishna Chaitanya
- erreichte, der als Schüler und Nachfolger von Sri Ishvara Puri auftrat. Der gegenwärtige
acaryadeva ist der zehnte bevollmächtigte Stellvertreter innerhalb der Schülernachfolge nach Sri Rupa
Goswami. Sri Rupa Goswami ist der ursprüngliche Beauftragte von Sri Chaitanya, der diese
transzendentale Überlieferung in ihrer ganzen Fülle predigte. Das Wissen, das wir von unserem
gurudeva empfangen, unterscheidet sich nicht von dem, das von Gott Selbst und der Nachfolge der
acaryas verkündet wird, die in der ursprünglichen Linie von Brahma stehen. Wir verehren diesen
glücksverheissenden Tag als sri vyasa-puja-tithi, weil der acarya der lebende Stellvertreter von
Vyasadeva ist, dem göttlichen Autor der Veden, Puranas, der Bhagavad-Gita, des Mahabarata, und
des Srimad Bhagavatam.
Mit unserer begrenzten, verzerrten Methode der Beobachtung und des Experimentierens können wir
nichts über die transzendentale Sphäre erfahren. Aber wir alle können unsere Ohren weit öffnen für
den transzendentalen Klang, der aus jenem Reich durch das reine Medium des sri gurudeva oder Sri
Vyasadeva auf unsere Ebene herabkommt. Deshalb meine Herren, sollten wir uns heute den
Lotosfüssen des Stellvertreters von Sri Vyasadeva hingeben, damit alle die unterschiedlichen
Vorstellungen beseitigt werden, die durch unseren Ungehorsam entstanden sind. In der
Bhagavad-Gita (4.34) wird das genauso ausgedrückt:
tad viddhi pranipatena, pariprasnena sevaya
"Wende dich einfach an den weisen und rechtgläubigen geistigen Meister. Gib dich zuerst ihm hin
und versuche ihn zu verstehen, indem du ihn befragst und ihm dienst. Solch ein weiser geistiger
Meister wird dich mit transzendentalem Wissen erleuchten, denn er kennt bereits die Absolute
Wahrheit."
upadeksyanti te jnanam, jnaninas tattva darsinah
Um transzendentales Wissen zu erlangen, müssen wir uns völlig dem echten acarya in einer geistigen
Haltung des eifrigen Fragens und begeisterten Dienens hingeben. Die tatsächliche Ausführung von
Dienst für den Absoluten unter der Anleitung des acarya stellt die einzige Möglichkeit dar, durch die
wir transzendentales Wissen aufnehmen können. Wir sind heute hier zusammengekommen, um
unseren demütigen Dienst und unsere Ehrerbietungen den Füssen des acaryadeva darzubringen.
Dadurch wird es für uns möglich, mit den Fähigkeiten begnadet zu werden, die wir zur Aufnahme
des transzendentalen Wissens so dringend benötigen, das von ihm grosszügig an alle Menschen ohne
Unterschied weitergereicht wurde.
Meine Herren, obwohl wir trotz seiner Barmherzigkeit nur unvollkommen in der Lage sind, die
erhabenen Botschaften unseres acaryadeva zu begreifen, müssen wir doch gestehen, dass die göttliche
Botschaft von seinen heiligen Lippen das angemessene Heilmittel für die leidende Menschheit
darstellt. Wir alle sollten ihm geduldig zuhören. Er wird uns ganz sicher seine Barmherzigkeit
erweisen, wenn wir dem transzendentalen Klang ohne unnötigen Widerstand lauschen. Es ist der
Auftrag unseres acaryas, uns zu unserem ursprünglichen Zuhause zurückzubringen, zurück zu Gott.
Lassen Sie mich hier deshalb wiederholen, dass wir ihn geduldig anhören sollten, ihm nach Massgabe
unserer Überzeugung folgen und uns vor seinen Lotosfüssen verbeugen, damit er uns erlöse aus
unserer gegenwärtigen grundlosen Abneigung, dem Absoluten und allen Seelen zu dienen.
Während wir zu Füssen des acaryadeva sitzen, wollen wir aus dieser transzendentalen Quelle des
Wissens zu verstehen suchen, wer wir sind, was das Universum ist, wer Gott ist und wie unsere
Beziehung zu Ihm beschaffen ist. Die Botschaft von Sri Chaitanya ist die Botschaft für alle
Lebewesen und die Kunde von einer lebendigen Welt. Sri Chaitanya Selbst bemühte sich nicht um
eine Erhebung dieser toten Welt, die passenderweise martya-loka genannt wird, die Welt, in der alles
sterben muss. Er erschien bei uns vor 450 Jahren, um uns etwas über das transzendentale Universum
zu erzählen, wo alles ewig und alles zum Dienst für den Absoluten bestimmt ist. Aber in jüngster
Zeit haben einige gewissenlose Menschen die Lehre von Sri Chaitanya entstellt und die höchste
Philosophie des Herrn so falsch ausgelegt, als ob sie nur der Kultgegenstand der niedrigsten
Gesellschaftsschicht sei. Wir sind sehr froh darüber, heute abend verkünden zu können, dass unser
acaryadeva in seiner gewohnten Güte uns vor dieser schrecklichen Entartung bewahrt hat, und
deswegen verbeugen wir uns in aller Demut vor seinen Lotosfüssen.
Wir sind glücklich darüber, dass wir durch die Barmherzigkeit Seiner Göttlichen Gnade von dieser
abscheulichen Schlechtigkeit befreit worden sind. Er öffnet unsere Augen, ist unser ewiger Vater,
unser ewiger Lehrer und unser ewiger Meister. Deshalb wollen wir uns an diesem glücksverheissenden
Tag vor seinen Lotosfüssen verbeugen.
Meine Herren, obwohl wir in Bezug auf das Wissen von der Transzendenz wie unwissende Kinder
dastehen, hat mein gurudeva doch ein kleines Feuer in uns entfacht, um die unüberwindliche
Dunkelheit des verstandesmässigen Wissens zu vertreiben. Unsere Sicherheit ist jetzt so gross, dass
keine noch so gewichtigen philosophischen Argumente der empirischen Schulen uns auch nur einen
einzigen Zentimeter von unserem immerwährenden Vertrauen in die Lotosfüsse Seiner Göttlichen
Gnade abbringen können.
Meine Herren, wäre er nicht erschienen, um uns aus der Sklaverei dieser grobstofflichen, weltlichen
Täuschung zu befreien, wir wären sicherlich für endlos lange Zeit in der Dunkelheit hilfloser
Gefangenschaft geblieben. Wenn er nicht vor uns erschienen wäre, wären wir nicht fähig, die ewige
Wahrheit der erhabenen Lehren von Sri Chaitanya zu begreifen.
Was mich persönlich angeht, so habe ich keine Hoffnung, dass ich in den unzähligen
Verkörperungen, die ich im Verlauf meiner weiteren Lebensreise noch annehmen muss, je direkten
Dienst leisten darf. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich eines fernen Tages aus dem Morast der
Täuschung befreit werde, in den ich gegenwärtig so tief versunken bin. Lassen Sie mich deswegen
mit aller Ernsthaftigkeit zu den Lotosfüssen meines geistigen Meisters beten, dass er mir erlaube, all
das zu erleiden, was mir aufgrund meiner vergangenen Missetaten bestimmt ist. Dass er mir aber
auch diese Kraft der Erinnerung gebe: dass ich nichts anderes bin als ein winziger Diener von Gott
dem Allmächtigen und Absoluten, der sich seiner selbst nur durch die unerschütterliche
Barmherzigkeit seines göttlichen Meisters bewusst geworden ist. Deswegen möchte ich mich mit aller
mir zur Verfügung stehenden Demut vor seinen Lotosfüssen verbeugen.Abhay Charan Das
Dieser Vortrag wurde erstmalig 1936 in der Zeitschrift "The Harmonist" veröffentlicht, am
Erscheinungstag Seiner Göttlichen Gnade Om Vishnupada Srila Bhaktisiddhanta Saraswati Thakura.
Für die Mitglieder der Sri Gaudiya Math Bombay