Bhagavad-Gita-Studium


Kapitel 1 - 18



Bhagavad-Gita: Zeitlose Lehre über das Selbst und das Universum (1.1. des Seminars)

Die Bildersprache der Puranas, den ergänzenden Weisheitsgeschichten Indiens, preist das Studium der Bhagavad-Gita in folgender Analogie:

Die Upanishaden sind wie eine Herde von Kühen. Bhagavan, das Höchste Selbst, nimmt die Rolle des Melkers ein. Unter seinen Händen strömt die Milch der upanishadischen Weisheit aus den Eutern und wird zur Bhagavad-Gita. Nun können die Kälber - die Schüler und Yogis - kommen und die Weisheit des Unvergänglichen trinken.



Täglich werden wir mit einer wahren Flut an Informationen und Werbung aus Rundfunk, Fernsehen, Reklametafeln, Computern, Büchern, Zeitschriften, Filmen und anderem überschwemmt. Fast ausnahmslos sind diese Botschaften darauf ausgerichtet, die Lebewesen und die Welt, die uns umgibt, von einem rein materiellen Blickwinkel aus zu betrachten. Es wird das Bild von einem Dasein gezeichnet, dessen Ursache der Zufall und die Selektion sei, und dem, - wenn überhaupt -, einzig der Sinn innewohne, den der Einzelne ihm gebe. In der Folge verankert sich in uns fest die Idee von ”Ich“ (ich Körper) und ”Mein“ (mein Ansehen, meine Familie, mein Besitz usw.) und wir richten unser gesamtes Denken und Wünschen darauf aus. Werbekampagnen jedwelcher Art sind auf der Grundlage dieses Konzepts sehr erfolgreich, und veranlassen uns, Zu- und Abneigungen zu entwickeln, entsprechend denen wir unsere Meinung ändern, Produkte einkaufen oder bestimmte Kandidaten wählen.

Glücklicherweise beginnen mehr und mehr Menschen zu fühlen, entweder verschwommen oder aber völlig klar, dass unser Dasein doch aus mehr besteht, als einem Körper, der gefüttert, gekleidet, gehegt und in Autos oder Flugzeugen herumgeschüttelt wird. Sie beginnen zu ahnen, dass das unendliche Universum mehr darstellt als nur eine Bühne für die prachtvollen Auftritte der wirtschaftlichen und politischen Siege und Niederlagen der Menschheit. Früher oder später halten die meisten von uns inne und stellen sich Fragen wie: ”Wer bin ich? Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Was ist überhaupt mit dieser Welt? Woher kommt sie und welche Absicht steckt dahinter?“

Seit Urzeiten haben sich nachdenkliche Menschen der Bhagavad-Gita zugewendet, dem zeitlosen Gespräch zwischen Sri Krishna und Seinem Schüler Arjuna und darin nach Antworten auf ihre tiefsten Fragen über das Selbst und das Universum gesucht. Die Lehren der Gita, dem Juwel indischer spiritueller Weisheit, transzendieren die Grenzen von Raum und Zeit, um die grundlegenden menschlichen Versuche zu beantworten, ihre Identität und ihr Sein zu verstehen. In diesem Seminar werden Themen der Bhagavad-Gita wie zum Beispiel Bewusstsein, Wiedergeburt, das Gesetz des Karma, der Ursprung des Universums, Meditationstechniken und andere aufgegriffen und weiter ausgeführt.

Die Lehren der Gita haben Indien sozial, ethisch, kulturell und sogar politisch Tausende von Jahren geprägt, nicht nur in den ruhmreichen Zeiten der vedischen Kultur, sonder auch später trotz der fremden Einflüsse von Griechen, Moslems und der Engländer. Die Mehrheit der Inder betrachtet das Werk immer noch als den vollkommenen und praktischen spirituellen Lebensführer. Die Gita lässt uns in die metaphysischen und psychologischen Grundlagen der vedischen Kultur eindringen - traditionell und zeitgemäss.

Auch auf das Gedankengut vieler Philosophen, Theologen, Lehrer, Wissenschaftler und Autoren im Westen hat die Bhagavad-Gita einen Einfluss ausgeübt. So schrieb z. B. Henry David Thoreau in seiner Zeitung: ”Jeden Morgen bade ich meinen Intellekt in der gewaltigen und weltschöpferischen Philosophie der Bhagavad-gita ... dagegen scheint unsere moderne Zivilisation und unsere Literatur kläglich und trivial.“

Die Bhagavad-Gita umfasst siebenhundert Sanskritverse und ist ein Teilstück des hunderttausend Verse umfassenden indischen Epos Mahabharata. Es darf gesagt werden, dass sie eines der wichtigsten literarischen Werke der Menschheit darstellt, über die im Laufe der Menschheitsgeschichte mehr Kommentare geschrieben wurden als über jeden anderen Text. Die Bhagavad-Gita ist als Klassiker mit zeitloser Weisheit das wichtigste literarische Werk der ältesten Kultur, der vedischen Kultur.

Traditionell ist der Veda kein Schrifttum, sondern eine Wortoffenbarung, die in langen Reihen der Schülernachfolgen vom befähigten Lehrer an den befähigten Schüler weitergegeben wurde, wie es im Gespräch zwischen Krishna und Arjuna in der Bhagavad-Gita selbst deutlich zum Ausdruck kommt. Im Westen sind die Veden als ein riesiges Schriftwerk bekannt, das die Basis der vedischen Philosophie und Spiritualität bildet. Es gibt 108 Upanishaden, die den wesentlichen Kommentar zu den Veden bilden. Als Zusammenfassung der Upanishaden wird die Bhagavad-Gita manchmal auch als Gitopanishad bezeichnet.

Obwohl die Bhagavad-Gita weit verbreitet ist und vielerorts gelesen wird, erschien sie ursprünglich lediglich als eine kleine Episode des Mahabharata. Im als Bhisma Parva bekannten Teil des Mahabharata, in welchem die Taten des grossen Kriegers Bhismas beschrieben werden, nimmt die Gita 25 von 42 Kapiteln für sich in Anspruch. Als Verfasser des Mahabharata wird der grosse Weise Vyasadeva genannt.

Der Begriff Vyasadeva oder Vedavyasa bezieht sich jedoch nicht einfach auf ein bestimmte grosse Persönlichkeit aus der Vergangenheit, sondern auf seine Funktion als göttlicher Botschafter. Der Veda berichtet von einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, das sich jedoch in mannigfaltiger Abwandlung offenbart. Der göttliche Botschafter wird als Vyasadeva oder Vedavyasa bezeichnet. Der letzte Vyasadeva erschien nach vedischer Geschichtsschreibung zu Beginn des Kali-yugas vor 5000 Jahren, dem gegenwärtigen Zeitalter des Streites und der Heuchelei. Seine Aufgabe war es, das lebendige (vom befähigten Lehrer zum befähigten Schüler gesprochene) Wort in Schrift zu fassen.

(Bild: Narada Muni unterweist den Vyasadeva zu Füssen des Himalayas.)

Gleich zu Beginn der Bhagavad-Gita sehen wir, dass sie nicht direkt von einem der Teilnehmer der Schlacht bei Kurukshetra erzählt wird, sondern von Sanjaya, einem Schüler von Vyasadeva. Obwohl sich Sanjaya weit weg vom Schlachtfeld befindet, ist er fähig, die Ereignisse dort zu beschreiben, da sie ihm durch Vyasadeva in einer Vision enthüllt werden. So wird es dem blinden König Dhritarastra - dessen Blindheit nicht nur die Augen, sondern sein ganzes Wesen umfangen hält - möglich, an der Unterweisung und Offenbarung teilzuhaben.

Die Bhagavad-Gita ist ein Gespräch zwischen Sri Krishna und seinem Freund Arjuna. Es findet mitten auf dem Feld von Kurukshetra statt, auf dem sich die beiden Heere der Kauravas und der Pandavas bereits in Schlachtordnung aufgestellt haben, um einen vernichtenden Krieg zu führen. In einer Zeit, da bereits das finstere Zeitalter des Streites und der Heuchelei (Kali-Yuga) aufdämmert, soll das politische Schicksal dieser Ära entschieden werden.

Arjuna, einer der berühmten Pandava-Brüder zweifelt plötzlich an seinem Tun. Seine Pflicht als Krieger ist es, den Schwachen unter allen Umständen Zuflucht zu gewähren, sich für das Wohl seiner Schutzbefohlenen einzusetzen und für eine gerechte Herrschaft einzustehen, selbst wenn dies Krieg bedeutete. Doch als er viele seiner Verwandten und früheren Lehrer, die er immer noch achtet, ja zum Teil sogar liebt, kampfbereit auf der gegnerischen Seite sieht, übermannen ihn seine Gefühle und er zieht es vor, als Einsiedler in den Wald zu gehen, als bei einem Kampf soviel Blut zu vergiessen.

Bhagavan Krishna (der Höchste) hat die Rolle als der Wagenlenker von Arjunas Streitwagen angenommen. Er weiss um die Zerrissenheit seines Freundes und Geweihten. Als sich Arjuna nun mit seinen Zweifeln an Krishna wendet, unterweist dieser ihn über das Dharma (die soziale religiöse Pflicht) und den Yoga. Er drängt ihn nicht, er bedroht ihn nicht - er offenbart die göttliche Natur von und in allem, ja schliesslich sogar Sich Selbst als Bhagavan, weil Arjuna sein geliebter Freund ist, und überlässt ihm dann die freie Entscheidung.

So habe Ich dir ein Wissen erklärt, das immer vertraulicher und vertraulicher wurde. Denke gründlich darüber nach, und tue dann, was dir beliebt ... Du bist mir sehr lieb, und das ist der Grund, weshalb ich dir dies zu deinem vollen Nutzen offenbare.“ (Bg. 18.63/64)

Bhagavad leitet sich aus bhagavan ab, was soviel bedeutet wie der Besitzer (van) aller Füllen (bhaga). Gita heisst Gesang. So lautet die Übersetzung von Bhagavad-Gita: der Gesang dessen, der alle Füllen besitzt - und das kann sich nur auf Gott beziehen.



Geschichtlicher Hintergrund (2.1. des Seminars)

Die Tatsache, dass die Bhagavad-gita heute noch so lebendig ist wie eh und je, können wir daran messen, mit welcher Spontaneität grosse Reformer wie Mohandas Gandhi und Binodha Bahve ihr Leben und ihre Taten nach ihr ausgerichtet und sie tatsächlich ihren Schülern ausführlich kommentiert haben.
Thomas Merton

Der erste Teil einer jeden Lektion besteht aus einem eingehenden Studium der Bhagavad-gita. Zur Erörterung jedes Kapitels wenden wir in der Regel zwei Wochen auf.

Wir wenden uns als erstes dem historischen Hintergrund dieser Zeit zu und schliessen die Erörterung des ersten Kapitels der Bhagavad-gita daran an.

Das Mahabharata, eines der bedeutenden und umfangreichen Epen der Hindus, erzählt die Geschichte der grossen Bharata-Dynastie, einem Volksstamm, der bereits in der ältesten schriftlichen Überlieferung des Veda, dem Rig-Veda, erwähnt wird. Ein Hauptthema dieser Erzählung bildet der Bruderkrieg zwischen den 100 Söhnen von König Dhritarastra, (den Kauravas), deren Anführer Duryodhana ist und ihren Cousins, den fünf Söhnen Pandus (den Pandavas), die von ihrem ältesten Bruder Yudhisthira angeführt werden.

Pandu und Dhritarastra sind die Söhne König Vicitraviryas, eines Nachkommens König Bharatas, des früheren Weltherrschers. Dhritarastra ist der ältere Sohn und eigentliche Thronfolger, doch da er von Geburt an blind ist, wird sein jüngerer Bruder als König eingesetzt. Pandu stirbt jedoch schon in jungen Jahren und so kommen seine eigenen Söhne, Yudhisthira, Bhima, Arjuna, Nakula und Sahadeva unter die väterliche Obhut Dhritarastras. Dhritarastra erreicht nie die überragende Bedeutung seines Bruders und in seinem Inneren wünscht er sich, dass es einmal seine Söhne sind, welche die Welt regieren werden. Obwohl er deshalb weiss, dass es Unrecht ist, unterstützt er die Pläne seines ältesten Sohnes Duryodhana, als dieser in unzähligen Verschwörungen versucht, die Söhne Pandus und deren verwitwete Mutter Pritha (Kunti) um ihr Leben und den Thron zu bringen. Doch dank dem liebevollen Schutz Krishnas, der Kuntis Neffe und somit auch ein Verwandter ist, können die Pandavas immer wieder allen Anschlägen auf ihr Leben entkommen.

Schliesslich gelingt es Duryodhana, einem klugen Politiker und Falschspieler, die Pandavas in einem Glücksspiel um ihr Königreich zu betrügen und nimmt ihnen so auch ihre Freiheit. Dreizehn Jahre sind die Pandavas gezwungen, als Fremde und versteckt im Exil zu leben. Als sie dann wie einstmals vereinbart, von Duryodhana ihr Königreich zurückfordern, weigert sich dieser unverfroren. Noch einmal lenken die Pandavas ein. Als Ksatriya-Könige gehört es zu ihrer religiös-sozialen Pflicht, die politische Verantwortung und Leitung innerhalb eines eigenen Gebietes zu erfüllen. Um diese Verpflichtung erfüllen zu können, reduzieren sie ihre Forderung auf nur fünf Städte. Doch Duryodhana will die Pandavas vernichten und weist auch diese klägliche Forderung zurück, worauf Arjuna und seine Brüder zu den Waffen greifen, um ihrem ältesten Bruder Yudhisthira in seinem Kampf um den Thron zu unterstützen.

Dies ist der Rahmen, in dem sich die grossen Krieger und Könige aus allen Teilen der Erde zusammenfinden, um Yudhisthira beizustehen oder ihn zu vernichten. Noch am Vorabend der Schlacht unternimmt Yudhisthira einen letzten Versuch, den Krieg zu vermeiden und schickt seinen Freund Krishna zu Friedensverhandlungen ins feindliche Lager. Doch Duryodhana ist kampfentschlossen und will die Geschicke der Welt in die eigene Hand nehmen. Er schreckt nicht einmal vor dem Versuch zurück, den Boten zu töten und besiegelt so den Krieg.

Dieser Krieg ist auch Sinnbild des ewigen Kampfes zwischen Gut und Schlecht, der in dieser Welt und im einzelnen Lebewesen stattfindet. Pandu kann aufgrund eines Fluches selber keine Söhne zeugen, und so sind die tatsächlichen Väter der Pandavas himmlische Wesen (Devas). Ihr Charakter zeugt von hohem religiösen und moralischem Format. Durch göttliche Erkenntniskraft können sie Krishna als das höchste Wesen erkennen, während den ruchlosen Söhnen Dhritarastras dies nicht möglich ist. Als Krishna Seine Hilfe im Krieg anbietet, überlässt er den Kauravas die Entscheidung darüber, in welcher Form den beiden Parteien die Hilfe zu Gute kommen soll. Da Er der Höchste ist, verspricht Er, nicht persönlich einzugreifen; Duryodhana kann sich entscheiden, ob er die Unterstützung von Krishnas grosser Armee auf seiner Seite haben will - oder Krishna selbst als Ratgeber und Unterstützer. Duryodhana, das politische Genie, schnappt sich sogleich Krishnas Streitkräfte, während Yudhisthira sich genauso begierig Krishna selbst an seine Seite wünscht.

So übernimmt Krishna die Rolle des Wagenlenkers von Arjuna und macht sich höchstpersönlich verantwortlich für den Wagen des berühmten Bogenschützen. Das führt uns zum Punkt, an dem die Bhagavad-gita beginnt, beide Truppen in Aufstellung und bereit für die Schlacht.


Arjunas Klage (3.1. des Seminars)

Das erste Kapitel der Bhagavad-gita bildet den Auftakt zu einer Unterweisung, die noch heute nichts von ihrer Kraft und Weisheit verloren hat. Sie setzt die Erzählung des Mahabharata fort und schildert in Einzelheiten, wie die gegnerischen Armeen der Pandavas und der Kauravas einander kampfbereit gegenüberstehen. Tosend lassen beide Seiten ihre Muschelhörner erschallen und signalisieren so den Beginn der Schlacht von Kurukshetra. Doch da bittet Arjuna seinen Wagenlenker Krishna, den Streitwagen zwischen die Fronten zu fahren. Mit grossem Entsetzen sieht Arjuna Väter, Grossväter, Lehrer, Onkel, Brüder, Söhne und Freunde in den langen Schlachtreihen beider kampfbereiten Armeen. Schmerz und Mitleid überkommt ihn, als er seine engsten Verwandten, Lehrer und Freunde in diesem Kampfgeist vereint sieht und er verliert den Mut, legt den Bogen aus der Hand und beschliesst, nicht zu kämpfen.

Warum kämpft Arjuna nicht? Aus Mitleid? Aus Feigheit? Oder ist es vielleicht nur ein Sache von Unwissenheit, die Arjuna nicht verstehen lässt, weshalb es so entscheidend ist, dass er am Kampf teilnimmt und das Vorrücken der ruchlosen Kauravas verhindert?

Im ersten Kapitel und in den ersten Versen des zweiten Kapitels hören wir Arjunas eigenen Erklärungen, die seinen Entschluss nicht zu kämpfen stützen. Dann folgt die Unterweisung Krishnas, der Arjuna vor Augen führt, weshalb seine Argumente wertlos sind.

Wie so oft in der altindischen Weisheitslehre, übernimmt ein grosser Geweihter, eine vollkommen verwirklichte Seele (hier Arjuna), die Rolle eines Strauchelnden, Verwirrten. Tatsächlich ist es Krishna, der Regisseur dieses Dramas, der Arjuna verwirrt und ihn zweifeln lässt, so dass er seine transzendentale Lehre zum Nutzen der ganzen Welt verkünden kann. Ähnlich wie Krishnas Unterweisungen alle Zweifel Arjunas zerstreuen und ihn von seinen Ängsten befreien, liegt in ihnen die Kraft, jedes Lebewesen von den Bindungen des materiellen Daseins zu befreien, wenn es bereit ist, sich diese Unterweisung zu Herzen zu nehmen.

Entsprechend seinem eigenen, ganz persönlichen Werdegang wird der Mensch von ähnlichen Problemen zurückgehalten, wie sie Arjuna in der Bhagavad-gita anspricht. Das Schlachtfeld von Kurukshetra, die Kriegsheere, der politische Hintergrund und ähnliches bilden nur den äusseren Schauplatz für eine Auseinandersetzung, die in dieser oder anderer Form an allen Orten und zu allen Zeiten stattfindet. Wollen wir deshalb verstehen, worin die befreienden Anweisungen Krishnas bestehen und worauf sie sich beziehen, müssen wir versuchen, uns mit unserem Denken und Empfinden in die Lage Arjunas zu versetzen. Das erscheint nicht allzu schwierig, da das Denken und Wünschen der meisten von uns sich vorwiegend um unsere Körper, unsere Familien, unsere Arbeit oder unser Land dreht, wie dies in jenem Moment auch bei Arjuna der Fall ist. Ungeachtet dessen, ob wir diese zeitweiligen Formen besonders mögen oder nicht, beeinflussen sie unser Leben auf die eine oder andere Weise -, wir mögen uns an sie klammern oder sie ablehnen, in beiden Fällen ist unsere Aufmerksamkeit davon gefangen genommen und unser Bewusstsein daran gebunden.

Sehr schnell weist Krishna Arjuna in den Versen 16 und 17 des zweiten Kapitels darauf hin, dass die wandelbaren Bezeichnungen aus einer kosmischen Weltsicht betrachtet, keinen Bestand haben, und im Gegensatz hierzu einzig das ewige, unwandelbare Selbst, die unzerstörbare spirituelle Seele, wirkliche Substanz aufweist. Diese Sicht bildet die Grundlage transzendentalen Wissens. Selbst, wenn Sie aus diesem Kurs nichts anderes mitnehmen würden, als die bewusste Erkenntnis: ”Ich bin nicht dieser Körper, ich bin reine spirituelle Seele, Teil und Teilchen des höchsten Bewusstseins, des höchsten Wesens,“ beherrschten Sie die Essenz des Yoga.


Aufgabe

Lesen Sie Kapitel eins der Bhagavad-gita.



Shankhya-Yoga (4.1. des Seminars)

Die Bhagavad-Gita ist ein Aufruf an die Menschheit, Körper, Geist und Seele der reinen Pflicht (dharma) zu widmen und nicht zum geistigen Lüstling zu werden, der sich in der Gewalt willkürlicher Wünsche und unbeherrschter Impulse befindet.“
Mahatma Gandhi


Die philosophischen Lehren der Bhagavad-gita - Krishnas Anweisungen an den Krieger Arjuna - beginnen in diesem Kapitel. Verwirrt und verblüfft über das, was getan werden soll, wendet sich Arjuna an Krishna und bittet Ihn um Unterweisung: ”Mein natürliches Entscheidungsvermögen ist durch ein Gefühl der Hilflosigkeit getrübt. Es ist ein Gefühl, als ob ich Unrecht hätte. Meine Gedanken sind verwirrt, ich weiss nicht, was meine Pflicht ist. Ich bitte Dich, sage mir, was mit Sicherheit das Beste für mich ist. Bitte unterweise mich, denn ich bin Dein Dir hingegebener Schüler.“ (Vers 2.7)

Krishna beginnt Seine Unterweisungen mit den Lehren der Sankhya-Philosophie, die durch das analytische Studium der empirischen Welt nach einem wahren Verständnis über das Dasein strebt, und damit letztlich über den Bereich der materiellen Welt in den Bereich der immateriellen Welt vordringt. Indem sie die Elemente dieser Welt untersucht, kommt sie zu einer dualistischen Weltsicht: auf der einen Seite das materielle Prinzip, dessen Wesen durch ständige Wandlung, Unbeständigkeit und der Abwesenheit von Bewusstsein charakterisiert wird. Auf der anderen Seite steht das immaterielle Prinzip, das unveränderliche ewige Bewusstseinsprinzip, das sich sowohl über sich selbst als auch über die Materie bewusst ist und der Materie erst Leben verleiht. Dadurch dass das Lebewesen erkennt, dass es selbst (die jiva oder Seele) einer völlig anderen Kategorie angehört als der Materie, aus der bloss die grob- und feinstofflichen Hüllen seines Körper bestehen, erlangt es Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburt.

Darstellung eines Yogis, der sich seines spirituellen Wesens so vollkommen bewusst ist, dass er im Moment des Todes den Körper über das Scheitel-Chakra verlässt.

Sri Kapiladeva, der ursprüngliche Lehrer des Shankya-Yogas, führt aus: ”Der Gedanke an den Tod sollte uns nicht in Furcht erzittern lassen. Wir sollten uns auch nicht als bemitleidenswerte Geschöpfe betrachten, die der Gunst planloser Gegebenheit ausgeliefert sind, - denn wir sind die Schöpfer unserer eigenen Bestimmung.“ (Shrimad-Bhagavatam, 3.31.47).

Dieses Verständnis ruft Krishna seinem Freund Arjuna in Erinnerung, indem er ihm die Ewigkeit des Selbstes vor Augen führt, für die es weder Geburt noch Tod gibt (Vers 11 - 31). Hingegen ist die Vergänglichkeit des materiellen Körpers eine Tatsache, an der Arjuna nichts zu ändern vermag. Das einzig beständige ist die Seele, die sich zeitweilig in verschiedenen Körpern manifestiert und einem manchmal als Verwandter, manchmal als Freund gegenübertritt. Arjuna als kshatria darf jedoch die Erfüllung seiner Pflichten nicht davon abhängig machen, ob jemand sein Verwandter, Freund oder ein Fremder ist. Seine Pflicht ist es, die Schwachen zu schützen, die bei ihm Zuflucht suchen und unterschiedslos nach Kriterien der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit zu handeln.

Zu den Themen der Shankya-Philosophie gehört auch die Lehre von den Gunas, den drei Erscheinungsweisen der Natur, unter deren Einfluss sich die ganze materielle Welt bewegt (die lichte helle Tugend; die nie ruhende feurige Leidenschaft; die dunkle träge Unwissenheit) und die Karma-Lehre. Die Samkhya-Lehre bildet die theoretische Grundlage nach welcher der Yogi sein Tun ausrichtet. Sie wird damit verglichen, die Wurzel des Baumes zu finden. Karma-Yoga beschäftigt sich darin, die Wurzel zu bewässern. Folgerichtig kommt Krishna in einem zweiten Schritt auf die Kunst des Handelns zu sprechen, Karma-Yoga.

Aus der Erkenntnis heraus, dass das eigene Selbst eigentliches Bewusstsein ist und einer anderen Natur zugehört, als den vergänglichen Formen des Körpers und dessen zugehörigen Bezeichnungen (wie Freund, Feind, Verwandter, Fremder, Ruhm, Schmach usw.), weist Krishna nun Arjuna an, sein Tun mit dem Höchsten Bewusstsein zu verbinden, um nicht von den Fesseln der Tätigkeiten (karma) gefangen zu werden. Er rät ihm, seine Pflicht zu erfüllen, ohne damit Gewinn und Ehre anzustreben, oder sich um Verlust und Schmach zu sorgen. Er legt Arjuna eine Pflichterfüllung nahe, wie sie ihm als Mensch und Kshatriya obliegt, und weist ihn gleichzeitig an, sich weder an sein Menschsein, noch an seine Pflichterfüllung oder den Früchten anzuhaften, die daraus erwachsen, sondern im Wissen um seine spirituelle Identität und Verbundenheit mit dem höchsten Bewusstsein zu einer inneren Ausgeglichenheit zu gelangen.

Arjuna bittet Krishna, Seine Erklärung noch weiterzuführen, und die Merkmale aufzuzeigen, die jemand aufweist, der selbstverwirklicht und in transzendentalem Bewusstsein verankert ist (Vers 2.54). So beschreibt ihm Krishna im weiteren Verlauf des Kapitels die Eigenschaften einer Person, deren Bewusstsein vollständig in der Transzendenz verankert ist (sthita-prajna). Solch eine Person, die ihre spirituelle Identität erfährt und die Art ihrer Verbundenheit mit der Materie richtig versteht, ist nicht länger von den materiellen Freuden und Leiden dieser Welt gefesselt. Aufgrund ihrer Verwirklichung kann sie ihren Verstand und ihre Sinne vollkommen kontrollieren und ist nicht mehr den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur unterworfen. Sie ist in der Lage, ihre Sinne, den Geist und die Intelligenz auf das höchste Bewusstsein zu richten, und geht direkt in die spirituelle Welt zurück, wenn sie diesen Bewusstseinszustand im Moment ihres Todes entwickelt hat.


Aufgabe

Lesen Sie Kapitel zwei der Bhagavad-gita.



Karma-Yoga (5.1. des Seminars)

Arjuna ist eine instinktive Abneigung gegen den Krieg eigen, und dies ist der Hauptgrund, weshalb hier der Krieg ausgewählt wurde, als Beispiel einer ausserordentlich abstossenden Pflicht. Die Bhagavad-gita lehrt, dass jemand selbst in Dingen, die dem Geistigen entgegenzustehen scheinen, mit reiner, uneigennütziger Absicht handeln kann und in dieser Weise im Bewusstsein an Krishna geführt wird. Dieses Bewusstsein selbst auferlegt einem strengste Begrenzungen im Ausüben von Gewalt, denn das Tun wird nicht vom eigenen Selbstinteresse geleitet, geschweige denn von Unmenschlichkeit, Sadismus und blosser Mordlust.
Thomas Merton


Zwischen einander scheinbar widersprechende Pflichten gestellt, zeigt sich Arjuna verwirrt. Er ist bereit, die Ungerechtigkeit der Herrschaft Duryodhanas über das ganze Land zu erdulden, er ist bereit die vielen Mordanschläge auf sich und seine Familie zu vergessen, ja er ist sogar bereit ruhen zu lassen, dass seine eigene Frau vor aller Augen entkleidet und entehrt werden sollte. Seine Erkenntnis lässt ihn zum Schluss kommen, trotz all diesem Übel nicht aus Eigennutz oder dem Wunsch nach Vergeltung zu kämpfen und so am Karma eines blutigen Krieges teilzuhaben. Vielmehr ist er entschlossen, sich wie ein schweifender Asket in die Einsamkeit des Waldes zurückzuziehen. Doch damit unterdrückt er seine eigene Natur. Er ist nicht Krieger, weil sein Vater einer war, sondern weil er selbst über den Charakter und die Eigenschaften eines Kriegers verfügt und bereits freiwillig entsprechende Verpflichtungen eingegangen ist.

So weist ihn Krishna darauf hin, dass niemand auf dem Pfad des Yoga fortschreitet, indem er seiner Arbeit entsagt, wohl aber der, der seinem Wesen entsprechend selbstlos die Pflicht ausübt, die ihm obliegt. Hätte der Weise Uddhava an Arjunas Stelle die Unterweisung vernommen, ”alles aufzugeben und sich Sri Krishna hinzugeben“, hätte seine Pflicht (dharma) darin bestanden, sich von allen weltlichen Einflüssen zurückzuziehen und sich vollkommen dem Dienst Sri Krishnas zu widmen. Doch als Arjuna fragt, weshalb er an diesem fürchterlichen Karma des Kampfes teilhaben soll, erklärt ihm Krishna, dass er bereits an dem karma Teil hat, das die Ursache des Kampfes ist. Dem Menschen obliegt die Pflicht, die Aufgaben zu Ende zu führen, die ihm das Leben stellt. Er darf nicht zum Heuchler werden und Tätigkeiten ausüben, die seinem Wesen, seinem Charakter nicht gerecht werden.

In dieser Welt ist jedes Lebewesen gezwungen seiner Natur entsprechend tätig zu sein, schon allein um seinen Körper am Leben erhalten zu können. Daher kann Untätigkeit nicht zum Ziel führen, wohl aber Tätigkeiten die dem Höchsten gewidmet sind (karma-yoga), und den Yogi über die Stufe des selbstlosen Tuns bis hin zum motivlosen, liebevollen Dienst für den Höchsten führen, der von allen Rückwirkungen frei ist. So kennt der Karma-Yoga denn auch verschiedene Stufen der Entwicklung, von der einfachen Pflichterfüllung um des Lohnes Willen, über die Pflichterfüllung, die nichts mehr für sich begehrt bis zur Ebene des Bhakti-Yoga, in welcher zuneigungsvolle Hingabe zum Höchsten das Motiv der Handlung ist.

Selbstloses Handeln im Karma-Yoga bedeutet, sich Schritt für Schritt von der Lust zu lösen. Es ist die Lust, die das Lebewesen zu grosser Leidenschaft anspornt und tätig werden lässt. Und es ist die enttäuschte Lust, welche das Lebewesen veranlasst, untätig zu werden, weil das Streben nicht zum gewünschten Ziel führt. Doch beides kann gleichsam mit den Kehrseiten derselben Medaille verglichen werden: dem selbstzentrierten Handeln. Im Vorgang des Karma-Yoga wird das Tun von dieser Lust geläutert und zu einem selbstlosen, der Welt und dem Höchsten gewidmetem Tun entwickelt, welches die Welt weder zu geniessen sucht und noch sie in enttäuschtem Begehren zurückweist.


Aufgabe

Lesen Sie Kapitel drei der Bhagavad-gita.



Jnana-Yoga (6.1. des Seminars)

Durch ihre Hingabe zu Gott, die im Tun ausgedrückt wird, nimmt die Bhagavad-Gita tiefgreifenden Einfluss auf den Geist des Menschen.
Albert Schweizer


Nachdem Krishna seinem Freund Arjuna erläutert hat, weshalb es besser ist, der Pflicht (dharma) entsprechend seine Handlungen auszuführen, als diese zurückzuweisen und in scheinbarem Nichthandeln zu verharren, weist Krishna auf das Prinzip hin, welches dem Tun als Grundlage dienen sollte: das Wissen um den Yoga, der Verbindung zum Höchsten.

Das Sanskritwort jnana ist ein Sammelbegriff für ”Wissen“. Jnana-Yoga wird generell mit ”die Vereinigung mit dem Unvergänglichen durch Wissen“ übersetzt. Mit Wissen ist jedoch mehr als eine blosse Anhäufung von Fakten gemeint. Im Jnana steckt auch Erfahrung. Eine Erfahrung welche die Kraft besitzt, die Fesseln an äussere Objekte zu lösen, indem einerseits die Erscheinungswelt als vergänglich, andererseits jedoch auch die ihr zugrunde liegende unvergängliche Wirklichkeit erkannt wird. Mit Hilfe dessen, was der Veda lehrt, weiss sich der Mensch als sprituelles Wesen (Atman) und versucht nun, seine Handlungen entsprechend dieser Erkenntnis auszurichten und den Geist in diese spirituelle Identität zu versenken. In den Versen des vierten Kapitels erklärt Krishna seinem Freund in unterschiedlichen Darlegungen, dass es ein Handeln gibt, welches keine Bindung an diese Welt erzeugt: nämlich das Tun, das auf transzendentalem Wissen beruht. Dieses Handeln ist nicht auf das körperliche Prinzip von ”Ich“ und ”Mein“ ausgerichtet, sondern auf den spirituellen Kern des Daseins. Der Yogi bemüht sich nun nicht länger darum, sein Schicksal zu verbessern oder seine Sinnesfreude zu steigern, er bleibt gleichmütig bei Erfolg und Misserfolg und überwindet so die Anfhaftung, den Zorn und auch den Neid. Der Weg des Jnana erfordert Entsagung in Tat und Geist und strebt die völlige Läuterung des Geistes an. Entsagt wird dem, was den Geist von der ewigen Wirklichkeit ablenkt bis hin zu dem ständig dahinplätschernden Gedankenfluss. Der geläuterte Geist wird so fähig in die Erfahrung des eigenen spirituellen Selbst (Atman) einzutauchen.

Ein weiterer Schwerpunkt des vierten Kapitels liegt im Hinweis auf die Guruparampara. In diesen Erklärungen wird der Offenbarungscharakter deutlich, der dem vedischen Wissen innewohnt. Ähnlich wie ein Forscher nichts über die Quelle eines Flusses in Erfahrung bringen kann, indem er bei der Flussmündung Wasser entnimmt, und dieses untersucht, kann auch jemand, der nach der Transzendenz sucht, über diese nichts erfahren, solange er ausschliesslich die Materie erforscht. Obwohl die Quelle der Offenbarung ganz und gar übermenschlich ist und sich dementsprechend ausserhalb des Denkens des Menschens und der Gesetze einer relativen Wirklichkeit befindet, hat die Offenbarung eher wissenschaftlichen als dogmatischen Charakter, denn:

  • Wie eine detaillierte Theorie erläutert die Offenbarung (der herabsteigende Weg) der Bhagavad-gita fünf grundlegende Themen: Gott, Lebewesen, Schöpfung, Zeit und Tätigkeit.
  • Wie in einem Experiment wird eine klar definierte Praxis vorgegeben (Yoga, Dharma).
  • Durch Praktik, empirische Erfahrung und Beobachtung (aufsteigender Weg) kommt der Sucher schliesslich zu schlüssigen Ergebnissen (Erkenntnis, Verwirklichung).

    Und noch eine zweite Eigenschaft der Offenbarung wird in den Versen deutlich: ihr persönlicher Charakter. Wie Krishna erklärt, erscheint er selbst immer und immer wieder in dieser Welt, wenn die heilbringende Offenbarung durch den Einfluss der Zeit verloren geht. Deutlich kommt in diesem Tun das Interesse des Göttlichen zum Ausdruck, den Lebewesen die Rückbindung (yoga) zu ihm zu ermöglichen. Eine unpersönliche Energie ist passiv, sie IST einfach, weder interessiert sie sich, noch nimmt sie Anteil, noch tauscht sie Zuneigung aus. All diese Eigenschaften gehen über den Aspekt des freudvollen Ruhens in sich selbst hinaus, welches das Merkmal der göttlichen Energie ist. In der Persönlichkeit und Individualität des Wesens liegt eine Dynamik, welche Interesse und Liebe erst ermöglichen. In Bezug zum Höchsten Wesen betont der Veda manchmal mehr den unpersönliche Aspekt (seine alldurchdringende Kraft) manchmal den persönlichen Aspekt (als Individuum). Dabei lässt sich feststellen, dass der persönliche Aspekt den unpersönliche Aspekt beinhalten kann, umgekehrt jedoch nicht. Krishna offenbart in der Bhagavad-Gita die Vollkommenheit seines Wesens, als Quelle von allem: sowohl der unpersönlichen Energie, die passiv, alldurchdringend den göttlichen Urgrund aller Existenz bildet, als auch der persönliche Energie, die dynamisch über ihre Energien verfügt und dadurch einen gegenseitigen Austausch (z. B. der Liebe) erst ermöglicht.


    Aufgabe

    Lesen Sie Kapitel vier der Bhagavad-gita.



    Der Yoga der Entsagung (7.1. des Seminars)

    Die Bhagavad-gita kann als umfassende Abhandlung zu den verschiedenen Tätigkeiten des Lebens verstanden werden. Doch tatsächlich behinhaltet sie mehr, da sie darauf ausgerichtet ist, Gottesdienst, praktisches Tun und innere Einkehr in der Erfüllung einer täglichen Pflicht zu vereinigen, die durch die Wirkung eines höheren Bewusstseins jedes einzelne der drei übersteigt.
    Thomas Merton


    In den ersten Kapiteln unterweist Krishna seinen Freund über die Seele und welche Gründe sie an den Körper binden. Er rät ihm, seine Pflicht zu erfüllen, ohne sich daran anzuhaften. Er zeigte ihm auch, wie sein Tun zu yoga wird, wenn es in transzendentalem Wissen gründet. Doch die Vielfalt der möglichen Tätigkeiten verwirrt Arjuna: einerseits wird die Pflichterfüllung und das gewidmete Handeln ohne Anhaftung betont, andererseits wird auch die befreiende Wirkung gepriesen, die der Entsagung von materiellen Tätigkeiten auf der Grundlage von transzendentalem Wissen innewohnt. So fragt er seinen Lehrer, welches denn nun die richtige Art zu handeln sei.

    ”Beide Wege führen zur Befreiung“, wird ihm geantwortet. Doch Handeln in Entsagung ist besser als dem Handeln zu entsagen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass jemand nicht einfach durch das blosse Vermeiden einer Tat zum entsagten yogi wird, während jemand, der den Früchten seiner Handlungen entsagt, sich immer in Entsagung befindet, obschon er handelt. Es geht ja nicht um die blosse Entsagung, um ein Asketentum, sondern um Yoga, die Verbindung mit der Transzendenz.

    Diese Verbindung entsteht durch ein Handeln, das bewusst der ”Ichzentriert“ entsagt und statt dessen auf die Transzendenz, auf Gott ausgerichtet ist. Das ist ein allmählicher Vorgang, da allein die Vorstellung oder das Wissen von diesen Zusammenhängen erst die Grundlage bildet, der Handlung in dem Sinne zu entsagen, dass sie der Transzendenz gewidmet ist. Das Lebewesen lernt sich bewusst zu werden über seine spirituelle Natur, die unwandelbar durch all die Zeit bleibt und den materiellen Körper, der sich unter dem Einfluss der Zeit in Verbindung mit den Elementen dieser Welt ständig wandelt. Der zeitweilige Körper, die Stadt der neun Tore, wie Krishna ihn bezeichnet, ist die Ursache vieler Tätigkeiten und der daraus entstehenden Wirkungen. Es ist der grobmaterielle Körper, der gefüttert, gekleidet, gewaschen werden muss. Es ist der feinmaterielle Körper, in dem Bilder aufsteigen und der die Dualität der Sinneseindrücke als Genuss oder Leid empfindet. Und es sind das ”Ich“ und ”Mein“ dieses materiellen Körpers auf welchen die zahlreichen gesellschaftlichen Aktivitäten gegründet sind. Das spirituelle Selbst handelt nicht in dieser Weise, da es beispielsweise weder Hunger, noch die Dualität von Freud und Leid empfindet oder sich verheiraten würde. Es befindet sich jenseits dieser Aktivitäten.

    Trotzdem kann die Lösung offensichtlich nicht darin bestehen, der Handlung zu entsagen, zum Beispiel sich nicht mehr zu ernähren, zu waschen oder sich um keinerlei gesellschaftliche Verpflichtungen mehr zu kümmern. Äusserlich gesehen, handelt das Lebewesen mit seinem Körper und seinen Sinnen, gleichzeitig ist es sich jedoch seiner spirituellen Natur bewusst und bemüht sich, entsprechend dieser Natur tätig zu sein. Es betrachtet den materiellen Körper als eine Leihgabe des Höchsten Lebewesens, der ihm gegeben wurde, um eine bestimmte Art von Handlung auszuführen. Es ist das dharma, das im hilft, sein Handeln Stufe um Stufe mit Yoga zu verbinden. Der Mensch handelt nicht in der Selbstzentriertheit des körperlichen ”Ich“ und ”Mein“ und er vermeidet auch nicht die Handlung, um ihr in dieser Weise zu entsagen. Vielmehr versucht es sein Handeln der Transzendenz zu widmen - durch Verinnerlichung seiner spirituellen Natur, Yoga, aber vor allem auch durch Hingabe und Dienst.

    Dieser Dienst findet auf verschiedenen Reifestufen des menschlichen Bewusstseins statt. Einem Menschen, dem es gänzlich fremd ist, jemandem einen Liebesdienst zu erweisen, wird geraten, Asche zu verschenken, damit er zumindestens einmal damit beginnen kann, jemandem etwas zu schenken, ihm zu dienen. Ein anderer Mensch mag bereits den Segen erfahren haben, den er selbst empfängt, wenn er notleidenden Menschen und Tieren helfen und dienen kann. Auf einer weiteren Stufe - der Stufe des demütigen Weisen, wie Krishna im Vers 5.18 erklärt - mag er schliesslich die gleiche transzendentale Natur jedes Lebewesens erkennen. Er wird sich nicht mehr damit begnügen, dem Nächsten zu dienen, sondern durch Yoga den Dienst zum Atma - die Seelsorge - mit in Einbetracht ziehen. Diese Stufe wird sogar noch gesteigert, wie Krishna im letzten Vers (5.29) andeutet. Es ist der Dienst zum grossen Atma, dem Ursprung und dem Empfänger aller Gaben und Entsagungen, welcher das Lebewesen mit dem ersehnten inneren Frieden (shanti) erfüllen kann, ohne länger von äusseren Einflüssen gestört zu sein.


    Aufgabe

    Lesen Sie Kapitel fünf der Bhagavad-gita.



    Dhyana-Yoga - Der Pfad der Meditation

    Erfolg in der Meditation mag durch Widmung zum Höchsten Wesen erlangt werden. Dieses Wesen, unter dessen allumfassenden Kontrolle alles steht, ist eine besondere Person, die ewiglich unberührt ist von Unwissenheit, materiellen Neigungen und den Gesetzen des Karma. Die Erkenntniskraft, die in ihr unendlich ist, ist in allen anderen unendlich klein. Sie ist der ursprüngliche Lehrer aller anderen Lehrer, da sie sich auf immer jenseits der Einschränkungen befindet, welche die Zeit auferlegt.
    Sri Patanjali Rishi, Yoga-Sutras, 1.23 - 1.26


    Das sechste Kapitel der Bhagavad-gita ist allgemein als die Unterweisung im Dhyana-Yoga (Verbindung durch Meditation) bekannt. Wir sind dem Begriff dhyana bereits in unseren Erläuterungen des achtfachen Yoga-Systems des Patanjali (siehe Kapitel 2.4 hiernach) begegnet, in dessen methodischen Aufbau es als die siebente Stufe beschrieben wird. Dhyana ist jedoch gleichzeitig ein allgemeiner Grundbegriff des Yoga und seine Ausübung wird entsprechend den verschiedenen Yogatraditionen unterschiedlich beschrieben. Der Begriff beinhaltet das Verständnis von Meditation, Versenkung, Bewusstseinsschulung, Versunkenheit in das Werk oder Wort Gottes. Grundsätzlich wird damit auf eine geistige Vertiefung hingewiesen, welche die praktische Entfaltung bestimmter Wesensmerkmale wie Losgelöstheit, Gleichmut gegenüber dem Drängen der Sinne (Sinneskontrolle), Aufrichtigkeit, Gerechtigkeitssinn, Frieden im Inneren sowie Wohlgesonnenheit und Liebe gegenüber einem jeden miteinschliesst.

    Mechanisch, praktische Anweisungen (Sitzstellungen, Augenhaltung, bestimmter Ort der Meditation auf einem bestimmten Sitz) sind ebenso Teil der Unterweisung, wie Einschränkungen und Gebote im Bezug zum Essen, Schlafen, Sexualität, welche günstige Voraussetzungen schaffen sollen, den Geist auf ein bestimmtes Objekt zu richten. Mit anderen Worten: Meister über seinen Geist (seinen Willen) zu sein, und sich nicht von ihm beherrschen zu lassen und durch die verschiedensten Ebenen menschlichen Begehrens und weltlicher Dualität getrieben zu werden, ermöglicht erst die Erfahrung inneren Friedens und Ausgeglichenheit (shanti). In dieser Hinsicht wird der Geist sowohl als der grösste Freund als auch der grösste Feind des Menschen bezeichnet: lassen wir es zu, dass uns unsere Selbstsucht treibt, selbst bis zu dem Grade, dass wir die Befriedigung unserer Wünsche auf Kosten der Mitgeschöpfe vorantreiben, entfremden wir uns immer mehr von der (ewigen, spirituellen) Quelle aller Freude und können auch nicht zu unserer eigenen Geistesfülle finden. Betrachten wir jedoch die zahlreichen Umstände, durch die wir in unserem Leben tagtäglich gehen, als willkommene Gelegenheit, unseren Willen zu kontrollieren und auf die spirituelle Wirklichkeit unseres Seins zu richten, üben wir den Geist darin, sich im Einklang mit dem spirituellen Kern unseres Seins zu seiner wahren Grösse zu entfalten. Das Übungsprinzip ist dasselbe, wie bei einem Sportler, der täglich seine Übungen ausführt, um seine Muskelkraft anwachsen zu lassen. Wird er in seinen Übungen nachlässig oder lässt sie sogar ganz ausfallen, verkümmern die Muskeln.

    Diese Übung fällt nicht immer leicht. Aber selbst wenn der Yogi zuweilen mutlos wird und den Eindruck hat, in seinem Streben keinen Schritt vorwärts zu kommen, sollte er sich nicht von seiner Entschlossenheit abbringen lassen. Wie Sri Krishna seinem Freund Arjuna in diesem sechsten Kapitel verschiedentlich versichert, ist keine Bemühung vergebens. Dies verdeutlicht auch folgende indische Weisheitsgeschichte:

    Ein Sperlingsweibchen legte seine Eier am Ufer des Ozeans ab. Doch der Ozean dehnte sich aus, und seine Wellen trugen die Eier mit sich davon. Als er seine Eier verloren sah, wurde der kleine Vogel sehr aufgeregt und traurig, und er bat den Ozean, ihm die Eier wieder zurückzubringen. Der Ozean war jedoch vollständig in seine eigene Grösse vertieft und nahm weder den kleinen Vogel, noch sein Flehen ernst. Ja, er beachtete ihn nicht einmal. Das Sperlingsweibchen fasste darauf den Entschluss, den Ozean mit seinem Schnabel leer zu schöpfen und auszutrocknen. Ohne sich von dem Gedanken bremsen zu lassen, sein Bemühen könnte aussichtslos sein, begann es Schnabel um Schnabel Wasser aus dem Ozean zu tragen. Als die anderen Lebewesen dieses Tun beobachteten, lachten sie über die unmögliche Entschlossenheit des Sperlings. Doch der kleine Vogel liess sich nicht beirren und so verbreitete sich seine Geschichte rasch. Schliesslich kam sie auch Garuda zu Ohren, dem gefiederten Träger Sri Vishnus. Um sich selber ein Bild von der Angelegenheit zu machen, begab er sich persönlich zum Ufer des Ozeans und sah dort seine kleine Vogelschwester beim Versuch, den Ozean mit ihrem kleinen Schnabel auszutrocknen, um ihre Eier wieder zu erhalten. Dieses Bild berührte sein Herz und auch die Entschlossenheit des kleinen Vogels beeindruckten ihn sehr. Er entschloss sich, dem Sperling beizustehen und befahl dem Ozean, die Eier zurückzugeben. Falls der Ozean sich weigern würde, so drohte Garuda, würde er selbst mit seinem ungeheuren Schnabel die Arbeit des Sperlings übernehmen und den Ozean binnen kurzem austrocknen. Da erschrak der Ozean und ohne Zögern gab er dem kleinen Sperling die Eier zurück.

    Der Vorgang, auf den Krishna seinem Freund Arjuna im sechsten Kapitel hinweist, birgt mehrere Schichten. Gleich zu Beginn findet sich der Hinweis darauf, dass das, was den einen Yogi einen Schritt weitergehen lässt, den Yogi auf einer anderen Stufe der Verwirklichung nur aufhält: Für den Sucher, der sich mit dem Höchsten verbinden will, ist die Tätigkeit das Mittel hierzu. Für den Sucher, der sich bereits mit dem Höchsten verbunden hat, ist das Ruhen das geeignete Mittel.

    Hier zeigen sich auch Unterschiede in der praktischen Ausübung des Yogavorgangs beim mystischen Yogi oder Jnani, der dem methodischen Vorgang des Patanjali-Yogas (achtfachen Yogas) folgt und dem Bhakti-Yogi. Wie aus den Eingangs erwähnten Versen Patanjalis hervorgeht, ist die Meditation auf die Widmung zum Höchsten Wesen ausgerichtet. Zur Stufe der Meditation gelangt der mystische Yogi erst auf der siebten Ebene des achtfachen Yoga-Systems, auf der er versucht, die Gestalt dieses Höchsten Wesens (param-atma) in seinem Herzen zu erblicken. Bis er zu diesem Punkt gelangt, liegen in der Regel bereits viele Jahre Yoga-Praxis hinter ihm, in denen er sich strengster Disziplin und Enthaltung unterzog, um seinen Geist beherrschen zu lernen und von der Dualität frei zu werden.

    Ähnlich ist auch der Bhakti-Yogi auf der ersten Stufe des Bhakti-Yoga nicht frei von der Dualität dieser Welt und kann entsprechend schwer seinen Geist kontrollieren. Dennoch - oder gerade deshalb - wird er bereits von Beginn an darin unterwiesen, die Gestalt des param-atma in allem zu erkennen und sein Denken, Handeln und Tun diesem göttlichen Aspekt zu widmen. Während deshalb ”Ruhen“ für den Jnani und den mystischen Yogi bedeutet, die äusseren Tätigkeiten aufzugeben, um in der stillen Meditation die spirituellen Kraft oder den param-atma zu erfahren und mit ihnen verbunden zu sein, bedeutet dieses ”Ruhen“ für den Bhakti-yogi, all seine Tätigkeiten dem param-atma zu widmen. Dies ist die Art, wie er seine Tätigkeiten zum Ruhen bringt, obschon er weiter tätig ist.

    Im Umgang mit den anderen Menschen in dieser Welt zieht er somit deren spirituelles Wesen in Betracht und versucht sich auch der Gegenwart des param-atma in jedem Lebewesen bewusst zu sein. Er widmet sich ihnen, sowohl um ihrer selbst willen, aber auch weil er um die Anwesenheit des Höchsten Wesens in ihren Herzen weiss. Doch auch in den anderen Lebewesen, in der Sonne, der Erde, dem Wasser, dem Äther und natürlich auch in seinem eigenen Selbst versucht er diese höchste Gestalt (param-atma) wahrzunehmen. Diese Haltung gegenüber den Dingen und Wesen in der Welt soll ihn davor bewahren, sie selbstisch für sich auszubeuten. Indem er das spirituelle Wesen ihres Seins (atma) sowie die spirituelle Grundlage ihrer Existenz (param-atma) zu erkennen (erfahren) sucht und sein Tun darauf ausrichtet, ist er ständig mit dem höchsten Wesen verbunden: dies ist die Meditation im Bhakti-Yoga. In dieser Weise wird ihm die unendliche Erkenntnis- und Liebeskraft des param-atma zugänglich.

    Der Yogi sollte deshalb nicht bei der Tätigkeit (karma), dem Wissen (jnana) oder der Askese (tapas) stehen bleiben, sondern die Verbindung (yoga) mit dem höchsten Wesen anstreben. Im letzten Vers dieses sechsten Kapitels deutet Krishna auch auf die Art des Yoga hin, in welcher diese Verbindung zu ihm zu ihrer vollen Blüte erwacht: bhajate, mit Liebe und Hingabe.

    ”Unter allen Yogis betrachte ich denjenigen als am engsten in der Spiritualität mit mir vereint, der immer in mir weilt und sich mir mit seinem innersten Herzen widmet - voller Glaubenszuversicht und Liebe.“ (Vers 6.47)



    Aufgabe

    Lesen Sie Kapitel sechs der Bhagavad-gita.



    Vijnana-Yoga - Verbindung durch Erkenntnis und Verwirklichung

    Ich verdanke der Bhagavad-gita einen wundervollen Tag. Sie war das erste Buch. Es schien als würde ein Imperium zu uns sprechen; nichts Kleines und Unbedeutendes, sondern etwas Grosses, Klares, Beständiges. Die Stimme einer uralten Intelligenz, die in einer anderen Zeit und in einer anderen Atmosphäre über dieselben Fragen nachgedacht und in der Folge entschieden hat, welche uns beschäftigen.
    Ralph Waldo Emerson


    In den ersten sechs Kapiteln der Bhagavad-gita erklärt Sri Krishna seinem Freund Arjuna, wie der Mensch sein eigenes bewusstes (spirituelles) Wesen erkennen und von der unbewussten (materiellen) Natur seines Daseins unterscheiden kann. Auch die unterschiedlichen Haltungen und Kategorien, in denen sich das Tun (karma) und Denken (jnana) des Lebewesen bewegt, wurden aufgezeigt, und erklärt, wie diese in den verschiedenen Yoga-Vorgängen Schritt für Schritt der Selbst- und Gotteserkenntnis angenähert werden. Das sechste Kapitel endete mit der Ermunterung, die Verbindung (den Yoga) mit dem Höchsten anzustreben.

    Im nun anschliessenden siebten Kapitel folgt ein erster umfassender Einblick in das allumfassende Wesen dieses Höchsten, das durch Seine Energien und Seine Persönlichkeit mit jedem Lebewesen entsprechend dessen Natur in einem Austausch steht.

    Gleich zu Beginn weist Krishna jedoch darauf hin, wie selten die Stufe der vollkommenen Erkenntnis Seiner Selbst ist. Vers 7.3. stellt unmissverständlich fest: ”Unter Tausenden von Menschen, bemüht sich kaum jemand um Vollkommenheit, und unter denen, die sich bemühen und sogar unter denen, die Vollkommenheit erlangen, kennt kaum jemand Mich in Wahrheit.“

    Diese Feststellung wirft gleichzeitig ein ernüchterndes Licht auf all jene, die für sich den Anspruch der Vollkommenheit oder Beinahe-Vollkommenheit erheben, ohne jedoch in Tun, Denken oder Erkenntnis diesem Anspruch genügen zu können. Etwas verborgener tritt noch ein weiterer erstaunlicher Hinweis zu Tage. Vollkommenheit allein ist noch keine Eigenschaft, die dem Lebewesen gestatten würde, Ihn tatsächlich so zu erfahren, wie Er ist. Der Preis dafür fällt noch höher aus, wie Krishna einige Verse weiter offenbart (Vers 7.17: eka-bhaktir): es ist die ausschliessliche Herzensneigung zu Ihm, die solche Erkenntnis beinhaltet.

    Zunächst offenbart Krishna, dass sowohl die unbewusste materielle Energie, als auch die bewusste Lebenskraft der Lebewesen ihren Ursprung beide in Ihm haben. Wer dieses Wissen verinnerlicht und letztlich sowohl die Kraft Krishnas in allem (Vers 7.7. ”wie Perlen auf einer Schnur“) als auch sein Antlitz hinter allem erkennen kann, was ihn umgibt, hat alles erkannt, was es zu erkennen gibt (Vers. 7.18. ”Ich bin sein höchstes Ziel“).

    Und wiederum tritt in diesem siebten Kapitel ein Element zu Tage, das für die Entwicklung der Herzensliebe und Herzenshingabe unverzichtbar ist: die Willlens- und Entscheidungsfreiheit des individuellen Lebewesens. Die Erkenntnisse und Wünsche der Menschen auf den unterschiedlichen Stufen des Daseins unterscheiden sich. Dies wird von Krishna nicht eingeschränkt - im Gegenteil. Es ist immer Krishnas Kraft, die das Lebewesen in seiner Sicht der Dinge stärkt. Dadurch wird ihm die Möglickeit gegeben, seine Neigungen entsprechend seiner Natur zu leben, jedoch dabei gleichzeitig praktische Erkenntnisse und Verwirklichungen zu sammeln, die es ihm ermöglichen, in seiner Entwicklung vorwärts zu gehen. Maya, die täuschende äussere Kraft Krishnas, hält jedem die Wirklichkeit vor Augen, die er sehen will.

    Eine Person mag ungehemmt ihre ganze Kraft dafür einsetzen, sich ein Denkmal für die Ewigkeit zu bauen, sei das in Form eines Geschäftsimperiums oder indem sie auf irgendeinem Gebiet Berühmtheit erlangt oder indem sie zumindestens irgendetwas schafft, was über den Tod hinaus Bestand hat. Vielleicht aber genügt es ihr auch schon, soviel Genuss wie möglich aus dem Leben zu schöpfen, um in dieser all zu kurzen Lebensspanne möglichst nichts zu verpassen. Einerseits kann der Mensch diesen Wunschträumen nur dann nachjagen, wenn er von seinem spirituellen Wesen und dem spirituellen Urgrund aller Dinge nichts weiss, die er zu geniessen trachtet. Andererseits liegt genau in den Erfahrungen, die er dabei sammelt, der Anstoss zu einem Umdenken und vielleicht zu einer ersten Bemühung, doch tiefer in seine Existenz einzutauchen. Denn er merkt früh genug, dass seine Denkmäler für die Ewigkeit Sandburgen gleichen und die vielen Freuden des materiellen Daseins doch nicht das Innerste seines Herzens zu erwärmen vermögen.

    Andere wiederum bestärkt Krishna in ihrem Glauben, bestimmte Devas zu verehren, die ihnen zu Glück im Leben verhelfen. Der Begriff deva bezieht sich auf eine göttliche Wesenheit, Götter. Oft sind damit Wesen gemeint, die sich auf einer höheren Daseinsebene als der Mensch befinden. Obschon es scheint, als ob diese hohen Persönlichkeiten die guten Ergebnisse gewähren würden, ist es wiederum Krishna, von dem diese Segnungen letztlich ausgehen - und auch hier wieder in vielfacher Weise. Einerseits werden die guten Ergebnisse aus diesen rituellen Handlungen zwar genossen, andererseits sind sie derartig zeitweilig und unerfüllend für den Menschen, dass auch diese Erfahrungen zum Ansporn für eine Suche nach einem tieferen Sinn des Lebens werden können. Oft fühlen sich gerade die Menschen, die sich alle Wünsche erfüllen können, innerlich enttäuscht und leer. Auf diesen Sachverhalt deutet bereits ein altes chinesisches Wort, das nicht etwa als Segenswort, sondern als Fluch benutzt wurde: ”Mögen all Deine Wünsche erfüllt werden!“

    Jemand, der wiederum auf einer anderen Daseinsstufe steht, mag Krishnas alldurchdringende formlose Energie verwirklicht haben. Doch da er keine transzendentale Form anerkennen will, kann er auch Krishnas ursprüngliche transzendentale Gestalt nicht erkennen. Denn es ist die innere Kraft Krishnas Selbst, welche Sein transzendentales Wesen verhüllt hält.

    Die letztliche Empfehlung geht schliesslich dahin, sich direkt der Verehrung und inneren Verwirklichung Krishnas zu widmen, da Er letztlich als Ursache hinter jeder Form von Energie und Segnung steht.

    Die Lebewesen stehen auf all diesen Lebensstufen in einem ihrer Natur entsprechenden Austausch mit Krishnas Energien oder Ihm Selbst. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis kann das Lebewesen daran gehen, dieses Wissen zu verwirklichen, indem es Krishnas transzendentales Wesen und Persönlichkeit überall inmitten der Erscheinungswelt wahrnimmt. In einer seiner Bedeutungen weist die Verbindung (yoga) durchvijnana auf diese hohe Stufe der Erleuchtung und Verinnerlichung hin, in der die Transzendenz nicht in einem gesonderten samadhi-Zustand, sondern mit offenen Augen tatsächlich - nicht mehr nur theoretisch - erfahren wird.


    Aufgabe

    Lesen Sie Kapitel sieben der Bhagavad-gita.