In diesem Teil gehen wir näher auf einige Themen bezüglich des Ursprungs und der Psychologie vedischen Wissens ein. Vedisches Wissen und der Vorgang des Yoga beruhen nicht auf blindem Glauben. Daher ist das aufmerksame Studium dieser Themen Bestandteil unserer Meinungsbildung.
Die Indologen haben bei Ihren wissenschaftlichen Forschungen die empirischen Massstäbe übernommen, wie sie in der westlichen Kultur auf den Gebieten der Geschichte, Anthropologie, Archäologie, Philologie und damit verwandter Disziplinen angewendet werden. Seit Beginn der indologischen Studien im 18. Jahrhundert wurde die Forschung auf jedem Gebiet immer weiterentwickelt. Dennoch stimmen die Gelehrten darin überein, dass ihre kritische Rekonstruktion über den Ursprung und das Wesen der vedischen Kultur höchst ungewiss ist.
Übereinstimmend erklären die altindischen Schriften (shastras), die vedische Literatur sei vor 5000 Jahren zu Beginn des Kali-Yugas niedergeschrieben worden, nachdem sie vorher schon viele Millionen von Jahren in der Form von shrutis (dem Gehörten) von Philosophen, Yogis und Heiligen (rishis) in langen Schülertraditionen weitergereicht wurde. Obwohl die Empiriker diese vielschichtige Gesamtheit der vedischen Kultur oft nicht berücksichtigen, räumen sie zumindestens ein, die Geschichte der Menschheit sei durch diese Datierung und die weltweiten Entdeckungen neu geschrieben worden. Immerhin geht der allgemeine Trend bei der Neuschreibung der Geschichte der Menschheit dahin, die angenommenen Daten für den Beginn der modernen Zivilisation immer weiter in die Vergangenheit zurückzuverlegen.
Für gewöhnlich ist es die Archäologie, die speziell darauf ausgerichtet ist, etwas über alte Kulturen herauszufinden. Einiges, was die vedische Geschichtsschreibung erzählt, wird durch archäologischen Funde bestätigt, allerdings sind die empirisch ermittelten Daten zu bruchstückhaft, um uns ein klares Bild der vedischen Zivilisation vermitteln zu können. Viele der geographischen Orte, die in den Schriften erwähnt werden, sind noch heute bekannt und manche indische Tempel werden entsprechend der Tradition Tausende von Jahren erhalten. Doch konnten diese Orte keine handfesten archäologischen Belege hervorbringen und die Ausgrabungen von Städten und Tempeln lassen keinen empirischen Schluss über den Beginn der vedischen Kultur zu.
Ein interessanter Hinweis kommt vielleicht etwas unerwartet aus dem Bereich der Astronomie. Surya-siddhanta, Paitamahasiddhanta des Vishnudharmottara Purana und Brahmagupta-siddhanta sind drei vedische Bücher über Astronomie, in denen die Himmelskoordinaten verschiedener Sterne angeben sind. Diese Koordinaten weichen jedoch auf den ersten Blick deutlich von den Erkenntnissen der modernen Astronomie ab. Mit Hilfe moderner Messtechniken und Berechnungen wurden die Sternenbewegungen zurückverfolgt und zeitigten ein überraschendes Ergebnis. Die in den vedischen Texten enthaltenen Koordinaten sind doch zutreffend - allerdings zu einem Zeitpunkt der Tausende von Jahren in der Vergangenheit liegt. Einige Angaben beschreiben Konstellationen, wie sie vor mehr als 50000 Jahren am Himmel zu sehen waren.
Die westliche Archäologie beginnt in Indien im frühen 19. Jahrhundert, als die Landvermesser der East India Company viele Tempel, heilige Stätten, alte Münzen und Inschriften nicht mehr gesprochener Sprachen entdecken. Im Jahre 1830 wird das Felsedikt von Kaiser Ashoka entziffert und so datiert man den Beginn der indischen Zivilisation auf 300 v. Chr.
Erst im 20. Jahrhundert kommt neue Bewegung in die Suche nach den Wurzeln der indischen Hochkulturen, als die Forschungsexpedition des englischen Archäologen Sir John Marshall 1924 bei Mohenjo-Daro Reste einer Kultur entdeckt, die älter ist als alles, was man bisher kennt. Der Fund befindet sich im heutigen Pakistan, am westlichen Ufer des unteren Indus. Kurze Zeit später wird einige hundert Kilometer weiter nördlich bei Harappa eine weitere Stadt desselben Alters ausgegraben. Die archäologischen Funde weisen auf eine Kultur mit gut funktionierenden sozialen Stadtgemeinschaften hin, die untereinander einen regen Handel treiben und über ein Schriftsystem verfügen. Zuerst nimmt man an, die Wurzeln dieser Kultur liege in Mesopotanien, doch die späteren Funde lassen 1998 die Archäologen Richard H. Meadow von der Harvard Universität und J. Mark Kenoyer von der Universität Wisconsin, Madison zum Schluss kommen, dass es sich um eine eigenständige Hinduzivilisation handelt, die bereits in einer Zeit etwa 3000 v. Chr. existiert hat (Geburt einer Zivilisation von Jonathan Mark Kenoyer Vizedirektor des Harappa Archaeological Research Project, erschienen beim Archaeological Institute of America, Ausgabe 51, Nr. 1, Januar/Februar 1998).
Eines sei vorweggenommen: Es sind vor allem die westlichen Gelehrten und Suchenden, die von einem vedischen Schrifttum sprechen und damit den Veda - die Veden - meinen. Doch dies ist irreführend, denn Veda bedeutet: heiliges Wissen, das nicht-menschlichen (a-paurusheya) Ursprungs ist. Das Offenbarungswissen des Veda geht den Pfad des Hörens - nicht nur in früheren Zeiten, sondern auch heute wie wir später noch aufzeigen werden. Dieses Hören geht über das hinaus, was mit dem menschlichen Ohr gehört wird, sondern weist auf ein Hören im Innern hin. Das Wort - die heilige Wortoffenbarung - ist ewig und hat keinen zeitlichen Anfang. Es entfaltet seinen wahren Sinn dann, wenn es von jemandem gesprochen oder gehört wird, der entsprechend verwirklicht ist. Entsprechend der Brhad-aranyaka Upanisad (2.4.10) entströmt dieses Wissen dem Atem des Purushas (Gottes). Es wird gesagt: So wie unser Atem leicht fliesst, entstehen diese Schriften aus dem Höchsten Brahman, ohne dass dieses Sich darum bemühen müsste.
Die vedische Literatur wird unter dem Oberbegriff shastra (Bedeutung: das was regelt, zurechtweist, auf dem rechten Weg hält) zusammengefasst. Dem spirituell Strebenden wird empfohlen, seine persönlichen Erfahrungen und Schlussfolgerungen immer auch anhand der shastra zu prüfen. In der Chandogya Upanishad (VII,1,2) - nach moderner Auffassung einer der ältesten Upanishaden - zählt der Weise Narada folgende Texte zur shastra: Ich kenne Rig-, Yajur-, Sama- und Atharvaveda (die vier Veden), sowie die Itihasas (Chroniken wie das Mahabharat, das die Bhagavad-Gita enthält, und das Ramayana) und Puranas als fünften Veda. Ich bin vertraut mit den Pancaratras (Ekayanam) und den Sutras (Lehrschriften zu bestimmten Wissensgebieten). Das Shrimad-Bhagavatam (1.4.20), auch Bhavagat-Purana genannt, das nach moderner Auffassung eines der jüngeren Puranas ist, bestätigt diese Aufzählung.
Jeder der vier Veden besteht aus Samhita (Sammlung von Hymnengruppen, Mantras), Brahmanas (umfangreiche theologische Abhandlungen über die richtige Verwendung und Bedeutung der in den samhitas enthaltenen Hymnen und Mantren für Opferhandlungen), Aranyakas (die Waldbücher) und den zum Teil in ihnen eingebetteten Upanishaden (Vedanta). Allein diese kurzen Beschreibungen vermitteln uns einen ersten Eindruck davon, wie breit die vedischen Schriften gefächert sind. Der Rg Veda allein enthält über 1000 Hymnen mit mehr als 10000 Versen, der Atharvaveda über 730 Hymnen mit mehr als 6000 Versen, das Mahabharata besteht aus 110000 Verspaaren, und die achtzehn Haupt-Puranas enthalten Hunderttausende von Versen. Zu diesen vedischen Schriften im engeren Sinne hinzugezählt, werden zuweilen auch die Kommentare späterer Meister und Lehrer, die den Lauf der vedischen Denkweise jahrhundertelang mitbestimmt haben.
Die vedischen Schriften werden in shruti und smriti unterteilt. Zu den shruti gehören die vier Veden inklusive der Upanishaden. Dieser Begriff wird aus der Sanskritwurzel sru (hören) abgeleitet und bedeutet soviel wie, das Gehörte. Sie wurden von den rishis (Seher, Heilige) gehört und weitergegeben, doch ihr Ursprung ist nicht von dieser Welt.
Zu den smriti zählen Offenbarungen, deren erster sprachlicher Formgeber bekannt ist (Vyasa, Narada usw.), die Puranas, die Itihasas (wie das Mahabharata, in dem die Bhagavad-Gita enthalten ist), die Manusmriti und andere Gesetzbücher, die Nitishastras (Lehrbücher über das richtige Verhalten) sowie die Werke (darshana) der Begründer der sechs klassischen indischen Philosophiesysteme wie Jaimini, Kapila, Patanjali, Kanada. Smriti bedeutet das, was erinnert wurde. In einem Sinnbild wird die sruti mit der Mutter und die smriti mit der Schwester verglichen. Ein Kind hört zuerst von seiner Mutter und kann dann aus den Beschreibungen seiner Schwester weiterlernen.
Je nach eigenem Empfinden und Verständnis heben verschiedene Philosophen bestimmte Texte der vedischen Offenbarung hervor, während sie andere weitgehend unbeachtet lassen. So gibt es Gelehrte, - oft sind sie in den Reihen der westlichen Indologen zu finden -, die von einem chronologischen Standpunkt her argumentieren, und nur die shruti als Veda gelten lassen, weil in ihnen die ursprüngliche Offenbarung enthalten sei. Damit wird selbst die Zugehörigkeit der Bhagavad-Gita zum Veda in Frage gestellt. Doch die bekannten Lehrer der verschiedenen Vedantaschulen, von Shankaracharya über Ramanuja bis hin zu Chaitanya Mahaprabhu anerkennen die smritis als Teil der vedischen shastra. Rupa Gosvami, ein vedischer Philosoph aus dem 16. Jahrhundert erklärt dazu, jemand, der sich nur an die shrutis halte, tue nichts weiter, als die Wörter der Schriften in den Mund zu nehmen, ohne sie zu verstehen oder zu leben.
Eine Aussage oder eine Schrift, die sich an den ursprünglichen vedischen Texten orientiert und darauf abzielt, deren Sinn und Zweck weiterzuführen, kann auch zu den Vedas gezählt werden. Dementsprechend kann jedes Werk als echte vedische Schrift anerkannt werden, selbst wenn es nicht zu den ursprünglichen Schriften gehört, sofern es beiträgt, die vedische siddhanta (Schlussfolgerung) weiter auszuführen, ohne ihre Bedeutung zu verändern. Vielmehr noch macht die vedische Tradition sogar weitere Werke erforderlich, welche den Sinn der vedischen Botschaft entsprechend Zeit, Ort und Umstände weitertragen.
Das Wesen des Veda wird im Buch von Walther Eidlitz Der Glaube und die Heiligen Schriften der Inder ausführlich beschrieben.
Wie in der vorhergehenden Lektion erklärt, gehört die Gesamtheit der schriftlich niedergelegten Erkenntnisse aus der alten indischen Hochkultur bis hin in unsere Zeit zur vedischen Literatur.
Das vedische Wissen gilt als ewig, und da der materielle Kosmos sich in einem ständigen Wandel befindet, wird auch der Veda immer wieder neu verkündet. Es ist die ewige Wiederkehr des Gleichen in zahlreicher Abwandlung, entsprechend Zeit, Ort und Umständen. Es ist nur natürlich, dass sich die menschliche Individualität und Eigenheit in unterschiedlichen philosophischen Ansichten ausdrückt. Die verschiedenen Heilswege und Yogapfade, die in den vedischen Schriften enthalten sind, ist die wirklichkeitsnahe und darum zeitlose Antwort eines grossen Erziehungsplan, der um diese Individualität weiss. Der Veda geht nicht in der Art eines geschickten Kartentrickspielers vor, indem er einen vorgefertigten Weg, der für jeden Menschen passt, aus der Tasche zaubert. Vielmehr fächert er ein unbegrenztes Spektrum an verschiedenen Wegen und philosophischen Betrachtungsweisen auf, um den Mensch auf der ihm eigenen Ebene der Bewusstseinsentfaltung und Neigung anzusprechen und ihn zu ermutigen, sich weiter zu entwickeln, - sowohl ihm Hinblick auf die materielle als auch spirituelle Wirklichkeit der Existenz. Zwar scheinen sich durch diese Vielfalt Widersprüche im heiligen Wissen des Veda aufzutun. Doch diesem weiten Spektrum liegt dieselbe Ursache zu Grunde und so führen die vedischen Schriften (shastras) letztendlich zu einem harmonischen Ganzen mit einer harmonischen Schlussfolgerung (siddhanta).
Wir beenden unsere Betrachtungen über die Veden mit einer Aussage des deutschen Indologen Helmuth von Glasenapp (1891 - 1963), in dessen Worten sich das Wesen des vedischen Erziehungsplan widerspiegelt:
"Das Nebeneinanderstehen von so grundsätzlich verschiedenen Anschauungen wie auch die Tatsache, dass die Vertreter derselben ihre Gegensätze nie zum Anlass von bedeutenden Religionskriegen oder Ketzerverfolgungen genommen haben, hat seine Ursache darin, dass die meisten Inder, wie Graf Hermann Keyserling dargetan hat, nicht glauben, dass metaphysische Wahrheiten in irgendeinem logischen System einer erschöpfenden Verkörperung fähig wären, vielmehr das Eigentliche nur in mehr oder weniger deutlicher und überzeugender Symbolik zum Ausdruck bringen.
Gemeinsam ist den unendlich vielen Gestaltungen der überirdischen Wirklichkeit nur, dass sie eine den besonderen Bedürfnissen und der Entwicklung des Einzelnen angepasste Möglichkeit der Erhebung über das Vergängliche bieten und dass sie in den letzten ethischen Konsequenzen konform gehen.
Ein Sanskritspruch sagt: Über heilige Stätten, über Gott und über die religiösen Pflichten herrscht unter den Gelehrten viel Streit, dass aber die Mutter etwas Heiliges ist und dass das Mitleid eine Tugend ist, darin stimmen alle Systeme überein." (Die fünf Weltreligionen, 1963, S.64/65)
Bei der Vielschichtigkeit des Sanskritausdrucks dharma ist es nicht verwunderlich, dass oft erst jahrelanges Ringen um ein tieferes Verständnis seine Bedeutung nach und nach offenlegen kann. Der Veda lehrt, so verschieden wie die Menschen und ihre Eigenschaften sind, so verschieden sind auch ihre Pflichten, ist ihr Dharma. Für die unterschiedlichen Formen menschlichen Charakters gibt es unterschiedliche Formen der Religion. Keineswegs kann es ein gleiches Gesetz für alle geben, welches alle über einen Kamm schert. Vielmehr wächst die Verantwortlichkeit des einzelnen, je reifer er wird und sein Bewusstsein zu läutern vermag.
Der Weg des Dharma bedeutet Rechtschaffenheit sowohl entsprechend der Stellung des Individuums in der Gesellschaft als auch der Entwicklung der Bewusstwerdung seiner Selbst. Im Veda sind viele Gebote des Dharma zu finden, die je nachdem, an wen sie gerichtet sind, sehr unterschiedlich ausfallen können. Darin steckt die Aufforderung, mit wacher Aufmerksamkeit die Wahrheit hinter all der verwirrenden Vielfalt dieser Welt und ihren Tätigkeiten zu finden. Der Mensch sollte lernen, sein Gewissen und die innere Stimme zu verstehen, und bereit sein, ihnen zu folgen, auch wenn ihm dies nicht immer leicht fallen mag.
Der Begriff dharma wird von der Sanskritwurzel dhri abgeleitet: das, was trägt - das, was das Weltall trägt. Es ist die Rechtschaffenheit, die Ordnung, die edle Gesinnung, das Gebot Gottes und darin eingeschlossen sind die Pflichten des Menschen, genauso wie Verhaltensregeln, Selbstdisziplin und Moralkodex. Dharma ist auch das, was man trägt.
Wir kennen die Foltermethode, bei der versucht wird, dem Menschen die Würde zu nehmen, indem man ihm seine Kleider wegnimmt und ihn nackt stehen lässt. Ähnlich nackt und würdelos verbleibt der Mensch, wenn er den Dharma ablegt, den er trägt - und der ihn trägt. Hingegen führt der Weg des Dharma zu Läuterung und Harmonisierung. Es sind die Aufgaben, die in einer bestimmten Weise individuell mit den Lebewesen verbunden sind, um es Schritt für Schritt dem Ziel näher zu führen. Zum Dharma gehört, dass der Mensch versteht, welche Stellung er im gegenwärtigen Leben einnimmt und welche Aufgaben er zu erfüllen hat. Er wird feststellen, dass sich die Wege und damit die Pflichten eines Menschen verändern können. Und dennoch bleibt dem Dharma ein Element eigen, das sich nie verändert: die Widmung, der Dienst.
So wird der Dharma zur Herausforderung, mit der wachsenden Erkenntnis über sich selbst, hinter die Kulissen und Rollen der verschiedenen körperlichen Hüllen zu blicken, die man im Laufe vieler Leben annimmt und sich schliesslich als ewiges Sein zu erfahren. Auf den Fuss folgt gleich die zweite Herausforderung, nämlich hinter den zeitweiligen an die entsprechende Verkörperung als Mensch mit bestimmter Zugehörigkeit, Stellung und Veranlagung gebundenen Pflichten, den ewigen Dharma zu entdecken. Unaufhörliches Sein und unaufhörliche Widmung sind unverrückbar miteinander verbunden.
Während in der westlichen Kultur religiös-philosophische Verständnisse oft der Aufsicht einer Institution unterliegen und von dieser durch die verschiedenen Zeitepochen hindurch verwaltet und weitergetragen werden, ist es im östlichen Kulturkreis das Konzept der Guru-Sampradaya, in welchem die Erkenntnisse der verschiedensten Gebiete von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Generell wird der Begriff guru in Indien auf jemanden verwendet, von dem man etwas lernen kann. Das können sowohl die Eltern sein, von denen man den Körper erhalten hat und die einem in die ersten Schritt des Lebens einführen. Das kann aber auch der Lehrer an der Schule oder Universität sein, der Handwerksmeister oder Kunstlehrer. Oft ist mit guru jedoch der geistige Meister gemeint, der dem Menschen auf dem Weg der Selbsterkenntnis beisteht.
Technisch beinhaltet der Begriff guru die Bedeutung: schwer, gewichtig, gross. Das weist darauf hin, dass ein Lehrer schwer oder gewichtig an Wissen über dasjenige sein muss, was er weiter vermittelt. Die wörtliche Bedeutung des Begriffs sampradaya lautet: sam (gleichbleibend, unverfälscht, treu) - pra (weiter) - daya (geben). Damit ist im Wort selbst die Funktion bereits beschrieben: In langen Ketten wird Wissen wie eine reife Frucht vom Meister an den Schüler weiter gereicht, der durch Verinnerlichung und Verwirklichung selber zum Meister wird und die Frucht des Wissens an seine Schüler gibt, ohne dass die Frucht dabei verdirbt oder herunterfällt.
Wie wir bereits früher festgehalten haben, handelt es sich beim Veda ürsprünglich und bis heute um eine mündliche Überlieferung oder Tradition. Das bedeutet, dass alle heiligen Texte ihren Sinn nur im lebendig ausgesprochenen Wort haben, das heisst ausgesprochen von jemandem, der innerlich auf der entsprechenden Stufe der Erkenntnis und Lebensschulung stehen muss. So werden zwar die Schriften mit grossem Respekt betrachtet, aber niemals getrennt vom lebendigen Beispiel einer aufrichtigen, dem Höchsten ergebenen Seele. Denn es genügt nicht, lediglich die Worte der Offenbarung unverfälscht weiterzugeben, der Guru muss in seinem inneren ewigen Wesen (atma) diese Offenbarung erlebt haben. Dieses System der Offenbarung durch die Schülernachfolge lehrt Krishna auch seinem Freund Arjuna (Bhagavad-gita 4.34):
Wisse dies - indem du dich achtungsvoll vor den selbstverwirklichten Lebewesen verbeugst, welche die Wahrheit erfahren haben, sie demütig befragst und ihnen Dienste darbringst, werden sie dir spirituelle Einsicht vermitteln. (Bg 4.34)
Das System der Schülernachfolge beruht nicht auf blindem Vertrauen. Vielmehr wird sowohl dem Lehrer als auch dem Schüler geraten, einander sorgfältig zu prüfen. Hier treffen wir auf eine weitere interessante Einsicht des Veda: das Gesetz der Entsprechung zwischen Guru und Schüler. Grundsätzlich wird der Gedanke vermittelt, dass jeder den Guru findet, der zu ihm passt, je nach dem Grad der eigenen inneren Aufrichtigkeit oder auch Unaufrichtigkeit. Ein Schüler, der an irgendeinem Punkt feststellen muss, dass sein Lehrer ein Betrüger ist oder zumindestens nicht den Beschreibungen eines Gurus entspricht, wie sie im Veda gegeben werden, ist damit aufgefordert, der Ursache für diesen Missstand nicht nur im Aussen (dem Lehrer), sondern auch im eigenen Innern nachzuspüren. Wer das Gefühl hat, von einem eigennützigen Guru zu lernen, kann die Verantwortung dafür nicht einfach auf diesen Guru abwälzen, sondern ist angehalten, in sich selbst die Eigennützigkeit oder Ursache zu suchen, weshalb er sich diesem Lehrer zuwandte. Wer in seinem Guru einen Heuchler entdeckt, sollte auch den Heuchler in sich selbst suchen. Wer erkennt, dass er mit Halbwahrheiten belehrt wird, sollte herausfinden, ob er sich selbst mit halben Wahrheiten zufrieden gibt.
In der Bhagavad-gita geben Krishna und Arjuna ein ideales Beispiel der Beziehung zwischen einem geistigen Meister und seinem Schüler. Gefordert durch eine unerbittliche Lebenssituation, wendet sich Arjuna aufrichtig und rückhaltlos an seinen Freund Krishna und stellt diesem Fragen über den Sinn und das Dasein der Welt und seines Lebens. Als er von seinem Lehrer eine Ratschlag erhält, dem zu folgen ihm zu schwierig erscheint, scheut er sich nicht, dies offen zu bekennen und bittet um eine weitergehende Unterweisung, der zu folgen ihm möglich ist. Er zögert auch nicht, Krishna seine Zweifel vorzubringen und bittet um Klärung. Krishna, der als der Ursprung alles Göttlichen völlig vertraut in der Wissenschaft der Seele ist, unterweist Arjuna immer weiter. Er weist seinen Schüler nicht zurück, wenn dieser sich als unfähig betrachtet, einen bestimmten Ratschlag praktisch umzusetzen. Vielmehr legt er die Vielschichtigkeit der vedischen Yogalehre dar, die darauf ausgerichtet ist, jedem Lebewesen auf der ihm eigenen Erkenntnis-Ebene ein praktischer Ratgeber zu sein. Mit anderen Worten: die ewig wiederkehrende gleiche Wahrheit je nach Zeit, Ort, Umständen und Person weiterzugeben.
Seine Unterweisung an Arjuna beendet Krishna mit der Aufforderung: Nun hast du alles gehört. Entscheide selbst. Es ist dies die Kunst, sich immer von der göttlichen Offenbarung und Führung abhängig zu fühlen und dennoch in völliger Selbstverantwortlichkeit zu entscheiden und zu handeln.
Wie wir in der dritten Lektion aufgezeigt haben, nimmt die Institution des gurus eine zentrale Stellung in der vedischen Tradition ein, nicht zuletzt deshalb, weil die unverfälschte Übermittlung einer Offenbarung oder Erkenntnis damit gewahrt werden soll. Doch es gibt nichts, was nicht in Eigennutz missbraucht werden könnte, und so gibt es in Indien viele berufsmässige Gurus, die sich für die Vergabe von geheimen Mantras entlohnen lassen und sich im weiteren nicht mehr gross um die geistige Entwicklung ihrer Schüler kümmern. Diese Praxis findet natürlich auch im Westen ihre Nachfolger und hat nachhaltig die Vorstellung des Gurus mit dem Rolles Royce und der Villa im Rücken geprägt. Zurückhaltung und die Bereitschaft zu Unterscheiden ist notwendig, denn wie bereits Ludwig Marcuse treffend feststellte: Wahrheiten können fast immer auch in den Dienst von Unwahrheiten gestellt werden.
Der Veda beschreibt einen geistigen Meister als jemanden, der mit der Wahrheit vertraut ist, weil er sie erfahren hat. Grundsätzlich anerkennt der Veda dabei nicht nur eine Erkenntnis als echt, sondern spricht davon, dass der eine Ursprung sich entsprechend dem Wesen des Suchers unterschiedlich offenbart und unterschiedlich wahrgenommen wird. So findet sich im Shrimad-Bhagavatam (1.2.11) die Aussage: Die Wisser der Wahrheit nennen die ewige Wahrheit, deren Wesen zweitlose reine Erkenntnis ist, Brahman, Paramatma und Bhagavan, so wird es vernommen.
Im späteren Verlauf werden wir näher auf die unterschiedlichen Offenbarungen des Einen eingehen. Die Grundlage dieses Seminar stellt jedoch das Bhagavan-Verständnis dar. In dieser Strömung wird betont, dass es unerheblich ist, ob ein Guru jung oder alt, gesund oder krank, Mann oder Frau, Asket oder verheiratet ist. Er muss jedoch in der Erkenntnis und Verwirklichung des Ursprungs, des Zentrums, verankert sein, zu dem alles ganz natürlich hingezogen wird: Sri Krishna - der Allanziehende.
Der Vayu Purana beschreibt die Eigenschaften eines solchen Lehrers weiter: Jemand, der den wesentlichen Kern des Veda kennt, deren Wahrheit festlegt und sich entsprechend den regulierenden Grundsätzen betätigt, ist deshalb als Lehrer bekannt. Und im Upadeshamrita von Rupa Gosvami, einem vedischen Philosophen aus dem 16. Jahrhundert, wird verdeutlicht: Jede ernsthafte Person, die dem Drang der Wünsche seines Geist und den Trieben des Zorns mit Gelassenheit begegnet und auch bei den Drängen der Zunge, des Magens und der Genitalien gleichmütig bleibt, ist geeignet, in der ganzen Welt Schüler zu unterweisen. Als Massstab gilt daher, dass ein Lehrer nicht nur schöne Worte predigt, sondern selber ein praktisches Beispiel seiner Unterweisung lebt. Intellektuelle Gelehrsamkeit, Ansehen, Ausstrahlungskraft oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition können die Mängel eines zweifelhaften Charakters, der zum Eigennutz neigt, nicht aufwiegen. Wer einen Lehrer annimmt, der Sklave seiner Sinne und nicht in der Lage ist, diese zu beherrschen, nimmt ein entsprechend grosses Risiko auf sich.
Aber auch hier gilt der Grundsatz, hinter die Äusserlichkeiten zu sehen. Jemand, der asketisch lebt, ist unter Umständen sehr angehaftet an dem wenigen, das ihm gehört. Auf der anderen Seite kann auch ein wohlhabender Mensch, seine Lebensumstände als zeitweilige Fügung des Schicksals verstehen und nichts als sein Eigentum, sondern alles als Segen des Höchsten betrachten. Bekannt ist die lehrreiche Geschichte von Sri Gadadhara. Von Jugendalter her sehr ernsthaft und im einfachen Leben der Meditation und der Widmung vertieft, führt ihn sein Weg auch in das Haus des reichen Pundarika Vidyanidhi. Als Gadadhara sieht, welche Opulenz Vidyanidhi umgibt, denkt er bei sich, dass so jemand nicht wirklich ein Gott gewidmetes Leben führen kann. Doch dann erlebt er, wie all der Reichtum Vidyanidhis diesem nicht das geringste bedeuten, und dessen einziges Glück und Interesse in der liebenden Hingabe zum Höchsten besteht. Sri Gadadhara bereut darauf seine voreilige Vermutung und wird schliesslich selber ein Schüler Pundarika Vidyanidhis.
Der Veda weist auch auf den inneren Guru hin, den Caitya-Guru, der verborgen im Herzen eines jeden Lebewesens weilt. Dieser innere Lenker führt den Menschen, der sich danach sehnt, sich dem Höchsten zu widmen, zum Guru der auf Erden wandelt. Der Guru ist immer derselbe, auch wenn er dabei in vielen verschiedenen Formen erscheinen mag. Das bedeutet, dass das Prinzip, das Wesen des Gurus, eins ist, nämlich die göttliche Wegweisung.
Der Guru, den man von Angesicht zu Angesicht wahrnimmt, der den Schüler im Wissen um das Selbst, im Mantra und dem Veda anweist, ist das gestaltgewordene Medium, durch das dem Schüler die Offenbarung des Höchsten, übermittelt wird. Es geht dabei nicht bloss um eine Lehre, die dogmatisch gesprochen und geglaubt wird, sondern um eine Offenbarung, die im Leben des einzelnen Schülers nach und nach Wirkung zeigt und ihm Erfahrungen und Begegnungen mit der Transzendenz ermöglicht. So zeigt Sri Krishna, der Allanziehende, der suchenden Seele den Weg zu Ihm sowohl durch den inneren Lenker (caitya-guru), als auch durch den äusseren Lehrer (guru), den man mit den Augen sieht.
Mit shishya ist ein Student gemeint, der nach der Spiritualität forscht und bewusst an seiner geistigen Entwicklung arbeitet. Ein solcher Student eignet sich nicht bloss Buchwissen an, sondern ist bestrebt, in seinem Leben eine praktische Anwendung des Gelernten zu finden und in dieser Weise ein spirituelles Leben zu führen.
Die Anforderungen, die ein Lehrer an den Schüler stellt, unterscheiden sich von Tradition zu Tradition, Lehrer zu Lehrer und Mensch zu Mensch. Allgemein von grundlegender Bedeutung ist jedoch die vertrauliche, zuneigungsvolle Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. Klangvoll stellt die Shvetashvatara Upanishad (6.23), eine der dreizehn Hauptupanishaden, die zum gemeinsamen Geistesgut der verschiedenen religiösen Strömungen Indiens gehört, fest:
yasya deve para bhaktir
Wer die innigste Liebe zu Gott und wie zu Ihm auch zu seinem Lehrer hegt, nur in einer solch grossen Seele leuchten die Reichtümer der ewigen Wirklichkeit auf, die mitgeteilt wurden.
Es ist keine blinde Nachfolge, die hier beschrieben wird. Vielmehr ist es eine Herzenszuwendung, die sich in einer ganz natürlichen Hingabe und Widmung zu Gott und Lehrer ausdrückt. Der Schüler entdeckt in seinem Lehrer ein lebendiges Beispiel der Ideale, die er anstrebt. Er erfährt die Person und Unterweisung seines Lehrers als praktisches Medium des Ideals, das er im Herzen trägt. Er ist auch bereit, in seinem Lehrer eine Autorität zu sehen, die ihn in seinem Yoga (sowohl bezüglich Philosophie als auch Yogadisziplin) unterweist. Da er die persönliche Erfahrung macht, wie sehr ihn die Unterweisung und das Wissen seines Lehrers auf seinem spirituellen Pfad trägt, wird er sich des grossen Segens bewusst, der durch seinen Lehrer fliesst. Er erkennt, dass er sich noch enger mit diesem Segen verbinden kann, wenn er sich mit Herz und Seele den Unterweisungen und dem Dienst seines Lehrers widmen kann.
Im Veda wird diese völlige Bindung und Verpflichtung gegenüber dem Lehrer an vielen Stellen betont. Gleichzeitig wird die Ermahnung ausgesprochen, seine Lehrer sehr achtsam auszuwählen. Denn der Sucher bleibt - auch als Schüler - selbstverantwortlich für sein Tun und sollte es daher vermeiden, gegen seine innere Überzeugung zu handeln. Keinesfalls sollte der Schüler einen Lehrer oder eine Unterweisung annehmen, weil dies von ihm erwartet wird oder er bloss einer äusseren Form genügen will. Es ist auch nicht ausreichend, einem Lehrer Vertrauen zu schenken, nur weil dieser sich in einer bestimmten geistigen Tradition befindet oder die angesehene Position eines Gurus innehat. Selbstverständlich wird einer solchen Person mit Respekt begegnet, aber ein angehender Schüler sollte zu seinem geistigen Lehrer das Vertrauen als Mittler der Transzendenz selber erfahren, bevor er sich dazu entschliessen kann, dessen Schüler zu werden. Widmung, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit sind daher wichtige Eigenschaften für den Schüler, der einen geistigen Weg anstrebt.
Und noch ein weitere Eigenschaft ist erforderlich: die Sehnsucht. Von welcher ausschliesslichen Art diese Sehnsucht eines Schülers sein sollte, erzählt folgende Geschichte aus dem Veda:
Unter einem grossen Baum, nahe einer Landstrasse, sass für lange Zeit ein Yogi in Askese und Meditation vertieft. Bewegungslos verharrte er bei Regen, Wind und Kälte, ohne Schutz und ohne Nahrung. Doch fühlte er, dass er trotz der Anstrengung, die er unternahm, seinem Ziel, der Befreiung, nicht näherkam. Immerhin war er aber durch seine aussergewöhnliche Entsagung bereits zu einem gewissen Ruhm gekommen, und so pilgerten immer wieder Menschen zu ihm, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Das tröstete ihn vorerst und er dachte, dass er sein Ziel bestimmt auch noch erreichen würde.
Eines Tages jedoch kam ein Weiser die Landstrasse entlang, der sein Leben vollkommen Gott geweiht hatte. Unbeschwert und mit einem Mantra auf den Lippen zog der Gottgeweihte an dem sitzenden Asketen vorbei. Dieser hatte die auffallende Gestalt bereits von weitem gesehen und war von dem Gefühl erfüllt worden: Dieser Mensch hat etwas, was ich nicht habe. Aus ihm leuchtet die Freiheit und die Liebe, die ich erlangen möchte. Ich sollte aufstehen und ihm nachgehen. Aber sogleich verwarf er diesen Gedanken wieder, denn er fragte sich, welchen Eindruck das wohl auf die Leute machen würde, wenn er plötzlich seine Meditation aufgeben und diesem wildfremden Mann dort hinterherlaufen würde. So blieb er sitzen, wurde jedoch bald von Reue geplagt, da er die Gelegenheit verpasst hatte.
Glücklich schritt nun der Asket neben dem Gottgeweihten her, bis sie einen Fluss erreichten. Der Weise ging einige Schritte ins Wasser hinein und forderte den Asketen auf, es ihm gleichzutun. Willig kam dieser der Aufforderung nach, als er unversehens von dem Weisen am Kopf gepackt und unter Wasser getaucht wurde. Völlig überrascht verblieb er einige Augenblicke still, bis ihn Atemnot packte und er mit den Armen zu rudern begann. Doch der Griff des Weisen lockerte sich nicht, und bald schon begehrte der Asket mit jeder Faser seines Wesens nach nur einem Atemzug frischer Luft. Da endlich zog der Gottgeweihte den Asketen aus dem Wasser hervor und dieser schnappte nach dem einzigen, das für ihn in diesem Moment irgendeine Bedeutung hatte: nach Luft.
Das ist das Geheimnis, sagte der Gottgeweihte darauf. Wenn du dich mit derselben Intensität und Ausschliesslichkeit nach Gottes Liebe sehnst, mit der du diesen einen Atemzug begehrtest, dann wirst du ans Ziel gelangen.
Eine Welt, deren Denken stark vom Ausspruch: Alles ist relativ geprägt ist, wird dem Begriff des Absoluten im allgemeinen kritisch gegenüberstehen. Demgegenüber lässt der Veda keinen Zweifel daran, dass das Wesen des Urgrunds aller Existzenz transzendental und somit absolut sei. Er nennt es deshalb absolut, weil es durch nichts beeinträchtigt, gestört oder eingeschränkt werden könnte, sondern uneingeschränkt und vollkommen ist. Damit etwas als Absolut bezeichnet werden kann, muss es Vollkommenheit beinhalten und somit auch All-umfassend, All-vereinend sein, da sonst etwas fehlen würde. Ein Charakteristikum des Absoluten besteht daher darin, dass es alles Relative miteinzubeziehen vermag. Wenn dem nicht so ist und das eine oder das andere ausgeschlossen wird, treten schnell Trennung und Spaltung ein und von Vollkommenheit kann keine Rede sein. So sind dem einen absoluten Ursprung ganz natürlich unterschiedliche Aspekte eigen, die in den Suchern entsprechend ihrem eigenen Wesen aufleuchten.
Oft benutzt der Veda den Begriff absolute Wahrheit als Synonym für das Wesen Gottes: etwas, das absolut ist, muss göttlich sein. In dieser Auffassung ist jedoch kein absolutistischer Kern enthalten, wie er so oft unter den verschiedenen Religionen und Ideologien zu finden ist. Der Veda deutet auf das Absolute ohne dabei das Absolutistische zu stützen. Er stützt weder Sektierertum (wir sind die einzig Auserwählten) noch Absolutheitsansprüche (Wahrheit ist einzig hier erhältlich). Vielmehr verweist er auf Gott als absoluten Wahrheit, das summum bonum, in dem alles - auch alles Relative - enthalten ist.
In diesem Verständnis erfährt die Suche des Einzelnen eine sehr sinnbezogene praktische Anwendung: jede aufrichtige Suche nach Lebenssinn, Wahrheit oder Liebe findet ihre Beantwortung letztlich im Absoluten. Denn dort kann und muss es in Vollkommenheit enthalten sein. Ein ähnliches Verständnis klingt auch in der Aussage der deutsch-jüdischen Philosophin und Karmeliterin Edith Stein (geb.1891, 1942 im KZ ermordet) an: Wer auf der Suche nach der Wahrheit ist, sucht Gott - ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.
Brahman bezieht sich auf das allumfassende, universelle, alles durchdringende, formlose, allem innewohnende göttliche Prinzip. Es ist der unpersönliche Aspekt Gottes, durchdrungen von ewigem Sein (sat), reiner Erkenntnis (cit) und unbegrenzter Freude (ananda). Von diesen dreien ist es vor allem der Ewigkeits- oder sat-Aspekt, der im Brahman zum Ausdruck kommt. Obschon diese Form der spirituellen Wirklichkeit zeitlose, undifferenzierte, eigenschaftslose Einheit des Seins ist, frei von Form und Persönlichkeit, bezeichnet der Veda es als den Urgrund des Universums, mit all seinen Formen und Erscheinungen: Am Anfang gab es allein das Brahman. (Chandogya Upanishad 6.2.1).
Es wurde bereits erwähnt, dass sich die Upanishaden auf das Brahman konzentrieren. In einem Beispiel illustriert ein bedeutsamer Bhakti Lehrer des 16. Jahrhunderts, Srila Jiva Gosvami, die stufenweise Annäherung, die in der Vielschichtigkeit dieser Texte verborgen ist. Er gibt das Beispiel einer Person, die sich während eines ganzen Lebens in einem dunklen Raum aufhält. In einer ersten Annäherung kann ein Lehrer auf die Sonnenstrahlen hinweisen und diese als Sonne bezeichnen. In einer Erweiterung des Beispiels, mag die Person sogar aufgefordert werden, sich in die Sonne zu setzen. Natürlich handelt es sich in beiden Fällen um die Strahlen, und nicht um die Sonne selbst, aber der Person wird auf diese Weise ein erster Eindruck von der Sonne vermittelt. So erklären auch die Upanishaden einen bestimmten Aspekt Gottes, und bereiten für den Sucher so das Feld, um letztlich alle Aspekte Gottes wahrnehmen zu können.
Der Brahman-Philosoph Radhakrishnan schreibt, das Brahman könne nicht durch logische Kategorien oder linguistische Symbole definiert werden. Vielmehr sei es das unbegreifliche eigenschaftslose Brahman (nirgunabrahman), das reine Absolute.
Die Brihad-aranyaka Upanisad (3.9.26) ihrerseits gibt eine Erklärung, wie Forscher, die in den Elementen der Materie nach den Wurzeln der Existenz suchen, nur neti, neti (das Selbst ist nicht dieses und nicht jenes) finden. Tatsächlich wird das Brahman als reines Bewusstsein beschrieben und kann als solches nur vom reinen Bewusstsein erkannt und erfahren werden. Innerhalb der relativen Wirklichkeit und Wahrheit kann das Absolute genausowenig gefunden werden, wie innerhalb der Dunkelheit kein Licht zu finden ist. Es verhält sich gerade umgekehrt. Dunkelheit hat aus sich heraus keinen Bestand, es kann also nicht etwa an einen hellen Ort gebracht werden. Wohl aber taucht Licht alles, mit dem es in Berührung kommt, in Helligkeit und ermöglicht der Dunkelheit erst ihre Existenz, nämlich dann, wenn das Licht verdeckt wird. In ähnlicher Weise, beinhaltet das Absolute zwar das Relative, aber es ist weder vom Relativen abhängig noch aus dem Relativen hervorgegangen. Es verhält sich genau umgekehrt. Erst wenn das reine Bewusstsein des absoluten Brahman verdeckt wird, entsteht das Relative.
Und noch auf eine letzte Erklärung des Begriffs Brahman sei hier hingewiesen. Manchmal wird das Brahman als der Lichterglanz Gottes beschrieben. Nach der Auffassung der Bhaktitradition verwehrt dieser Lichterglanz dem Sucher, dessen liebende Hingabe noch nicht voll entfaltet ist, den Blick auf den persönlichen Gott, ähnlich wie das gleissende Licht der Sonnenstrahlen dem Neugierigen den Blick auf die Sonne selbst verhüllt. Der spirituelle Sucher, der nach dem persönlichen Aspekt Gottes strebt, muss daher die Bewusstseinsstufe des Brahmans durchschreiten, wenn er ans Ziel gelangen will.
Die Wurzel vedischer Kultur (1.4. des Seminars)
Nicht erst die Römer kannten öffentliche Bäder. Das Bad von Mohendjo-Daro (ca. 4500 v. Chr.) umfasst ein 7 x 12 Meter grosses Becken. Um das Versickern des Wassers zu verhindern, wurden zwei Mauern aus Ziegeln errichtet und deren Zwischenraum mit Bitumen (einem halbfesten bis harten Kohlenwasserstoffgemisch) gefüllt.
Der amerikanische Historiker Will Durant weist in seiner Kulturgeschichte der Menschheit, Das Vermächtnis des Ostens darauf hin, diese Hochkultur sei vermutlich bereits früher, noch entwickelter gewesen. Er schreibt: Sonderbar genug, die untersten Schichten dieser Überreste (von Mohenjo-Daro) weisen eine höher entwickelte Kunst auf als die oberen - als ob die ältesten Lager von einer bereits Hunderte, vielleicht Tausende von Jahren alten Kultur herrührten .... Nach der Hausarchitektur, dem Siegelschnitt und der Anmut der Tonwaren zu schliessen, war die Induskultur zu Beginn des dritten Jahrtausends v. Chr. der babylonischen überlegen. Aber das war eine späte Phase der indischen Kultur; sie könnte auch schon früher führend gewesen sein.
I. Was sind die Veden? (1.5. des Seminars)
Auch dies gehört zum Veda: Ein Felsrelief der Tempelanlage von Mahabalipuram (Südindien), das Szenen aus dem Leben Arjunas darstellt. Mündliche Überlieferungen, die in Stein gehauen dem Zahn der Zeit trotzen sollen.
Mit dem geistigen Hintergrund des westlichen Verständnisses von Evolution haben sich in den letzten zwei Jahrhunderten viele Indologen und Religionswissenschaftler bemüht, das indische Schrifttum im Sinne einer stetigen Höherentwicklung einzuordnen. Doch sie mussten kapitulieren, denn zu umfangreich ist die Literatur, zu vielschichtig die Sanskritsprache, zu kryptisch die Texte, die einander in zahllosen Widersprüchen aufzuheben scheinen. Dabei erklären die Schriften sich - den Veda - letztlich als eine gesamtheitliche Einheit.
II. Was sind die Veden? (2.5. des Seminars)
Sanskrittexte wurden auf oft auf Blätter oder Holz niedergeschrieben. Hier sind die Zeichen auf dünnen, zusammmengefassten Holzplättchen millimetergross eingeschnitzt.
Der vedischen Tradition zufolge sind die Veden einerseits a-paurusheya, das heisst, nicht auf menschliche Tätigkeit oder Fähigkeit zurückführbar. Sie gelten als absolut und selbst-autoritativ, sie sind mit anderen Worten für eine Erklärung von nichts anderem abhängig als von sich selbst. Andererseits bedeutet das jedoch nicht, dass das, was als Schrift gelesen oder als Wort gehört wird, bereits absolut ist. Vielmehr wird betont, dass die innere Verwirklichung unerlässlich ist, um die äussere Schattenhülle des Wortes durchstossen zu können, und den Sinn - den Gehalt - im eigenen Atman zu erkennen und unmittelbar zu erfahren (siehe dazu auch den Text aus dem Bhagavata von Bhaktivinoda Thakura, Einleitung: 10. Einige Worte zu Indien).
Die Brücke als Symbol des Dharma: Das was die menschliche Existenz trägt und mit seiner spirituellenWurzel verbindet. Sie überquert die Kluft, die das Zeitweilige vom Ewigen trennt. (Brücke zum Kloster Phuktal, Zanskar im Himalaja)
Die Schülernachfolge: guru-sampradaya (4.5. des Seminars)
Der Geisteslehrer: guru (5.5. des Seminars)
Der Schüler: shishya (6.5. des Seminars)
yatha deva tatha gurau
tasyaite kathita hy arthah
prakasante mahatmanah
Nach einigen Tagen schritt derselbe Mann wieder auf dem Weg an dem Asketen vorbei. Diesmal warf der Asket alle Bedenken über Bord, stand auf und lief dem Weisen hinterher. Bald hatte er ihn erreicht, grüsste ihn und erzählte von seinen Bemühungen. Er fragte den Weisen nach dem Geheimnis, das ihn an sein Ziel und zu der Liebe und Freiheit bringen konnte, welche von dem Gottgeweihten ausgingen. Der Weise verblieb zuerst still, aber als der Asket nachdrücklich auf einer Antwort beharrte, forderte er ihn auf, ihm nachzufolgen.
I. Die drei Aspekte des Absoluten (7.5. des Seminars)
Wenden wir uns nun den drei Aspekten der absoluten Wahrheit zu, die der Veda im besonderen erwähnt. Die Wisser der Wahrheit nennen die ewige Wahrheit, deren Wesen zweitlose reine Erkenntnis ist, Brahman, Paramatma und Bhagavan, so wird es vernommen. Mit diesem Vers beschreibt das Shrimad-Bhagavatam 1.2.11 (siehe auch Kapitel 5.5. des Seminars) die unterschiedlichen Erkenntnisse, die der Sucher je nach Standpunkt, von dem einen Absoluten erhält. Vereinfacht kann gesagt werden, dass sich die Upanishaden auf das Brahman konzentrieren, das mystische Yoga-System auf den Paramatma und die Bhagavad-gita sowie die Puranas auf Bhagavan. Wir beginnen mit dem Begriff des Brahman.